Krieg in der Ukraine: Zehn Lehren aus Syrien

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Im Exil Lebende Syrer*innen über die Frage, wie ihre Erfahrungen den Widerstand gegen die Invasion beeinflussen können

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Im März 2011 brachen in Syrien Proteste gegen den Diktator Bashar al-Assad aus. Assad ging mit der ganzen Macht des Militärs gegen die daraufhin entstandene revolutionäre Bewegung vor – doch eine Zeit lang schien es möglich, dass diese seine Regierung stürzen könnte. Dann griff Wladimir Putin ein und ermöglichte es Assad, zu einem enormen Preis an Menschenleben an der Macht zu bleiben, und sicherte der russischen Macht in der Region ein Standbein. Im folgenden Text reflektieren ein Kollektiv im Exil lebender Syrer*innen und ihre Gefährt*innen darüber, wie ihre Erfahrungen mit der syrischen Revolution in die Arbeit zur Unterstützung des Widerstands gegen die Invasion in der Ukraine und die Antikriegsbewegung in Russland mit einbezogen werden können.

In den letzten Monaten wurde so viel Aufmerksamkeit auf die Ukraine und Russland gerichtet, dass mensch leicht den globalen Kontext dieser Ereignisse aus den Augen verliert. Der folgende Text bietet eine wertvolle Reflexion über Imperialismus, internationale Solidarität und das Verständnis der Nuancen komplexer und widersprüchlicher Kämpfe.

Porträts von Putin und Assad schauen zu, während bewaffnete Soldaten in den Trümmern Syriens patrouillieren.


Zehn Lehren aus Syrien

Wir wissen, dass es schwierig sein kann, sich in einer Zeit wie dieser zu positionieren. Zwischen der ideologischen Einmütigkeit der Mainstream-Medien und den Stimmen, die skrupellos Kreml-Propaganda verbreiten, kann es schwer sein, zu wissen, wem mensch zuhören soll. Bei der Wahl zwischen der NATO mit ihren schmutzigen Händen und einem schurkischen russischen Regime wissen wir nicht mehr, wen wir bekämpfen und wen wir unterstützen sollen.

Als Teilnehmer*innen und Freund*innen der syrischen Revolution wollen wir für eine dritte Option eintreten und einen Standpunkt vertreten, der auf den Lehren aus mehr als zehn Jahren Aufstand und Krieg in Syrien beruht.

Lasst uns von Anfang an klarstellen: Wir verteidigen auch heute noch die Revolte in Syrien in all ihren Facetten als breiten, demokratischen und emanzipatorischen Aufstand – insbesondere die Koordinationskomitees und die lokalen Räte der Revolution. Während viele all dies vergessen haben, bleiben wir dabei, dass weder die Gräueltaten und die Propaganda von Bashar al-Assad noch die der DschihadistInnen diese Stimme zum Schweigen bringen können.

Im Nachfolgenden wollen wir die Geschehnisse in Syrien und der Ukraine nicht miteinander vergleichen. Auch wenn diese beiden Kriege mit einer Revolution begannen und einer der Angreifer derselbe ist, sind die Situationen doch sehr unterschiedlich. Vielmehr hoffen wir, auf der Grundlage dessen, was wir von der Revolution in Syrien und dem darauf folgenden Krieg gelernt haben, einige Ansatzpunkte zu bieten, um denjenigen, die aufrichtig für emanzipatorische Prinzipien eintreten, dabei zu helfen, herauszufinden, wie sie Stellung beziehen können.

Ein Transparent in der syrischen Stadt Kafranbel. Kafranbel. Eine kurze Erklärung zur Fahne findet ihr im Anhang des Artikels weiter unten


1. Hört euch die Stimmen von Menschen an, die unmittelbar von den Ereignissen betroffen sind.

Anstelle Expert*innen für Geopolitik sollten wir auf die Stimmen von Menschen hören, die die Revolution von 2014 und den Krieg erlebt haben; wir sollten auf diejenigen hören, die zwanzig Jahre lang unter Putins Herrschaft in Russland und anderswo gelitten haben. Wir laden euch ein, die Stimmen von Menschen und Organisationen zu bevorzugen, die die Prinzipien der direkten Demokratie, des Feminismus und des Egalitarismus in diesem Kontext verteidigen. Das Verständnis ihrer Position in der Ukraine und ihrer Forderungen an die Menschen außerhalb der Ukraine wird euch helfen, euch selbst eine fundierte Meinung zu bilden.

Ein solcher Ansatz für Syrien hätte die beeindruckenden und vielversprechenden Experimente der Selbstorganisation, die im ganzen Land blühten, aufgewertet – und vielleicht unterstützt. Darüber hinaus erinnern uns die Stimmen aus der Ukraine daran, dass all diese Spannungen mit dem Maidan-Aufstand begannen. Wie unvollkommen oder ›unrein‹ er auch sein mag: Lasst uns nicht den Fehler machen, den ukrainischen Aufstand auf einen Interessenkonflikt zwischen Großmächten zu reduzieren, wie es einige absichtlich getan haben, um die syrische Revolution zu verschleiern.

2. Vorsicht vor verkürzter Geopolitik.

Sicherlich ist es wünschenswert, die wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Interessen der Großmächte zu verstehen, doch wenn mensch sich mit einer abstrakten geopolitischen Betrachtungsweise der Situation begnügt, kann dies zu einem abstrakten, unverbundenen Verständnis des Terrains führen. Diese Art des Verständnisses neigt dazu, die gewöhnlichen Protagonist*innen des Konflikts auszublenden, diejenigen, die uns ähnlich sind, mit denen wir uns identifizieren können. Vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass die Menschen unter den Entscheidungen von den Herrschenden leiden werden, die die Welt als ein Schachbrett, als ein Reservoir von Ressourcen die es zu plündern gilt, betrachten. Das ist die Art und Weise, wie die Unterdrücker*innen die Welt sehen. Die Menschen sollte sich diese Sichtweise niemals zu eigen machen, sondern sich darauf konzentrieren, Brücken zwischen den Menschen zu bauen und gemeinsame Interessen zu finden.

Das bedeutet nicht, dass wir die Strategie vernachlässigen sollten, aber es bedeutet, dass wir eine Strategie zu unseren eigenen Bedingungen entwickeln müssen, in einer Größenordnung, in der wir selbst aktiv werden können – und nicht, um darüber zu debattieren, ob wir Panzer Divisionen verlagern oder Gasimporte reduzieren sollen. Mehr dazu in unseren konkreten Vorschlägen am Ende des Beitrags.

3. Akzeptiert keine Unterscheidung zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Geflüchteten.

Um es klar zu sagen: Auch wenn die Aufnahme syrischer Geflüchteter in Europa alles andere als ideal war, so war sie doch oft freundlicher als die Aufnahme von Geflüchteten zum Beispiel aus Afrika, die unterhalb der Sahara leben. Bilder von Schwarzen Geflüchteten, die an der ukrainisch-polnischen Grenze abgewiesen wurden, und Kommentare in den Mainstreammedien, die die Ankunft ›hochwertiger‹ ukrainischer Geflüchteten gegenüber syrischen Barbar*innen bevorzugen, zeugen von einem zunehmend ungehemmten europäischen Rassismus. Wir verteidigen ein bedingungsloses Willkommen für Ukrainer*innen, die vor den Schrecken des Krieges fliehen, aber wir lehnen jede Hierarchie zwischen Geflüchteten ab.

4. Seid auf der Hut vor den Mainstreammedien.

Auch wenn sie, wie in Syrien, vorgeben, eine humanistische und fortschrittliche Agenda zu vertreten, beschränken sich die meisten dieser Medien auf eine viktimisierende und entpolitisierende Darstellung der Ukrainer*innen vor Ort und im Exil. Sie haben nur die Möglichkeit, über Einzelfälle, Menschen auf der Flucht, die Angst vor Bomben usw. zu erzählen. Dies hindert die Zuschauer*innen daran, die Ukrainer*innen als vollwertige politische Akteur*innen zu begreifen, die in der Lage sind, Meinungen oder politische Analysen zur Situation in ihrem Land zu äußern. Darüber hinaus neigen solche Sender dazu, eine grob pro-westliche Position zu vertreten, ohne Nuancen, historische Tiefe oder eine Untersuchung der Interessen westlicher Regierungen, die als Verteidiger*innen des Guten, der Freiheit und einer idealisierten liberalen Demokratie dargestellt werden.

Ein weiteres Bild aus Kafranbel.

5. Stellt die westlichen Länder nicht als die Achse des Guten dar.

Auch wenn sie nicht direkt in die Ukraine einmarschieren, sollten wir nicht naiv gegenüber der NATO und den westlichen Staaten sein. Wir müssen uns weigern, sie als die Verteidiger*innen der ›freien Welt‹ darzustellen. Vergesst nicht, dass der Westen seine Macht auf Kolonialismus, Imperialismus, Unterdrückung und der Ausplünderung des Reichtums von Hunderten von Nationen auf der ganzen Welt aufgebaut hat – und all diese Prozesse werden auch heute fortgesetzt.

Allein im 21. Jahrhundert sprechen wir da zum Beispiel von den verheerenden Folgen der Invasionen im Irak und in Afghanistan. In jüngerer Zeit, während der arabischen Revolutionen von 2011, ging es dem Westen, anstatt die demokratischen und fortschrittlichen Strömungen zu unterstützen, hauptsächlich um die Aufrechterhaltung seiner Vorherrschaft und seiner wirtschaftlichen Interessen. Gleichzeitig werden weiterhin Waffen an arabische Diktaturen und Golfmonarchien verkauft und privilegierte Beziehungen zu ihnen unterhalten. Mit seiner Intervention in Libyen fügte Frankreich eine schändliche Lüge hinzu und bezeichnete einen Krieg aus wirtschaftlichen Gründen als Unterstützung des Kampfes für die Demokratie.

Zusätzlich zu dieser internationalen Rolle verschlechtert sich die Situation auch innerhalb dieser Staaten weiter, da Autoritarismus, Überwachung, Ungleichheit und vor allem Rassismus weiter zunehmen.

Wenn wir heute glauben, dass Putins Regime eine größere Bedrohung für die Selbstbestimmung der Bevölkerungen darstellt, dann nicht, weil die westlichen Länder plötzlich ›nett‹ geworden sind, sondern weil die westlichen Mächte nicht mehr so viele Mittel wie früher haben, um ihre Herrschaft und Hegemonie aufrechtzuerhalten. Und wir bleiben misstrauisch gegenüber dieser Hypothese – denn wenn Putin von den westlichen Ländern besiegt wird, trägt dies dazu bei, ihnen mehr Macht zu geben.

Deshalb raten wir den Ukrainer*innen, sich nicht auf die ›internationale Gemeinschaft‹ oder die Vereinten Nationen zu verlassen, die – wie in Syrien – durch ihre Heuchelei aufgefallen sind und die Menschen dazu verleiten, an Schimären zu glauben.

6. Bekämpft alle Imperialismen!

›Lagerdenken‹ ist das Wort, das wir verwenden, um eine Doktrin aus einer anderen Zeit zu beschreiben. Während des Kalten Krieges vertraten die Anhänger*innen dieses Dogmas die Ansicht, dass es das Wichtigste sei, die UdSSR um jeden Preis gegen kapitalistische und imperialistische Staaten zu unterstützen. Diese Doktrin wird auch heute noch von dem Teil der radikalen Linken vertreten, der Putins Russland beim Einmarsch in die Ukraine unterstützt oder den laufenden Krieg relativiert. Wie in Syrien benutzen sie den Vorwand, dass die russischen oder syrischen Regime den Kampf gegen den westlichen und atlantischen [d. h. pro-NATO-] Imperialismus verkörpern. Leider weigert sich dieser manichäische Antiimperialismus, der rein abstrakt ist, den Imperialismus in einem anderen Akteur als dem Westen zu sehen.

Es muss jedoch anerkannt werden, was die russischen, chinesischen und sogar iranischen Regime seit Jahren tun. Sie haben ihre politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in bestimmten Regionen ausgeweitet, indem sie die dortige Bevölkerung ihrer Selbstbestimmung beraubt haben. Mögen die Aktivist*innen dafür jedes beliebige Wort verwenden, wenn ihnen der Begriff ›Imperialismus‹ unzureichend erscheint, aber wir werden niemals akzeptieren, dass die Anwendung von Gewalt gegen und die Beherrschung von ganzen Völkern im Namen einer pseudo-theoretischen Präzision entschuldigt wird.

Schlimmer noch – diese Position bringt diese ›Linke‹ dazu, die Propaganda dieser Regime bis hin zur Leugnung gut dokumentierter Gräueltaten zu übernehmen. Sie sprechen von einem ›Staatsstreich‹, wenn sie den Maidan-Aufstand beschreiben, oder leugnen die Kriegsverbrechen der russischen Armee in Syrien. Diese Linke ist sogar so weit gegangen, den Einsatz von Sarin-Gas durch das Assad-Regime zu leugnen, wobei sie sich auf ein (oft verständliches) Misstrauen gegenüber den Mainstream-Medien stützt, um diese Lügen zu verbreiten.

Das ist eine verachtenswerte und unverantwortliche Haltung, wenn mensch bedenkt, dass das Aufkommen von Verschwörungstheorien nie eine emanzipatorische Position begünstigt, sondern eher die extreme Rechte und den Rassismus. Im Fall des Krieges in der Ukraine sind diese schwachsinnigen Antiimperialist*innen, von denen einige dennoch behaupten, antifaschistisch zu sein, die Umstandsverbündeten eines großen Teils der extremen Rechten.

In Syrien hat die extreme Rechte, entflammt von Überlegenheitsfantasien und Träumen von einem Kreuzzug gegen den Islam, bereits Putin und das syrische Regime für ihr angebliches Vorgehen gegen den Dschihadismus verteidigt – ohne überhaupt zu verstehen, wie sehr das Assad-Regime für den Aufstieg der DschihadistInnen in Syrien verantwortlich ist.

Ein weiteres Bild aus Kafranbel.

7. Schiebt der Ukraine und Russland nicht die gleiche Verantwortung zu.

In der Ukraine ist die Identität des Angreifers jedem bekannt. Auch wenn Putins Offensive in gewisser Weise eine Reaktion auf den Druck der NATO ist, ist sie vor allem die Fortsetzung einer imperialen und konterrevolutionären Offensive. Nach der Invasion der Krim, nach der Unterstützung bei der Niederschlagung der Aufstände in Syrien (2015-2022), Belarus (2020) und Kasachstan (2022) duldet Wladimir Putin diesen Wind des Protests – verkörpert durch den Sturz des pro-russischen Präsidenten im Maidan-Aufstand – in den Ländern unter seinem Einfluss nicht länger. Er möchte jeden emanzipatorischen Wunsch, der seine Macht schwächen könnte, unterdrücken.

Auch in Syrien gibt es keinen Zweifel daran, wer direkt für den Krieg verantwortlich ist. Das syrische Regime von Bashar al-Assad hat sich einseitig dafür entschieden, einen Krieg gegen die Bevölkerung zu beginnen, indem es der Polizei befahl, die Demonstrant*innen der ersten Protesttage zu erschießen, zu inhaftieren und zu foltern. Wir würden uns wünschen, dass diejenigen, die Freiheit und Gleichheit verteidigen, einmütig gegen solche Diktatoren Stellung beziehen, die Kriege gegen die Bevölkerung führen. Wir hätten uns gewünscht, dass dies bereits in Bezug auf Syrien der Fall gewesen wäre.

Wenn wir den Aufruf zur Beendigung des Krieges verstehen und uns ihm anschließen, bestehen wir darauf, dass wir dies ohne jede Zweideutigkeit in Bezug auf die Identität des Aggressors tun müssen. Weder in der Ukraine noch in Syrien noch irgendwo sonst auf der Welt kann mensch den einfachen Menschen vorwerfen, dass sie zu den Waffen greifen, um ihr eigenes Leben und das ihrer Familien zu verteidigen.

Ganz allgemein raten wir Menschen, die nicht wissen, was eine Diktatur ist (auch wenn westliche Länder immer offenkundiger autoritär werden) oder wie es ist, bombardiert zu werden, davon ab, den Ukrainer*innen zu sagen – wie es einige bereits den Syrer*innen oder Hongkonger*innen gesagt haben –, dass sie nicht um Hilfe aus dem Westen bitten sollten oder dass sie keine liberale oder repräsentative Demokratie als minimales politisches System wünschen sollten. Viele dieser Menschen sind sich bereits über die Unzulänglichkeiten dieser politischen Systeme im Klaren – aber ihre Priorität liegt nicht darin, eine untadelige politische Position einzunehmen, sondern vielmehr darin, die Bombenangriffe des nächsten Tages zu überleben oder nicht in einem Land zu landen, in dem mensch für ein unbedachtes Wort zwanzig Jahre ins Gefängnis kommen kann. Das Beharren auf dieser Art von puristischem Diskurs zeugt von der Entschlossenheit, die eigene theoretische Analyse einem Kontext aufzudrängen, der nicht der eigene ist. Dies zeugt von einer echten Abkopplung vom Terrain und von einer sehr westlichen Art von Privileg.

Hören wir stattdessen auf die Worte der ukrainischen Gefährt*innen, die in Anlehnung an Michail Bakunin sagten: »Wir sind fest davon überzeugt, dass die unvollkommenste Republik tausendmal besser ist als die aufgeklärteste Monarchie.«

Ein Souvenirladen in Damaskus, Syrien.

8. Versteht, dass die ukrainische Gesellschaft, wie in Syrien und Frankreich, geprägt ist von verschiedenen Strömungen.

Wir kennen das Vorgehen, bei dem ein Herrscher eine ernsthafte Bedrohung benennt, um potenzielle Unterstützer*innen abzuschrecken. Dazu gehört die Rhetorik über den ›islamistischen Terrorismus‹, die Bashar al-Assad seit den ersten Tagen der Revolution in Syrien benutzt hat; ebenso wie heute der ›Nazismus‹ und ›Ultranationalismus‹, mit denen Putin und seine Verbündeten ihren Einmarsch in die Ukraine rechtfertigen.

Wenn wir einerseits anerkennen, dass diese Propaganda absichtlich übertrieben wird und wir sie nicht für bare Münze nehmen dürfen, so bestärkt uns andererseits unsere Erfahrung in Syrien darin, die reaktionären Strömungen innerhalb der populären Bewegungen nicht zu unterschätzen.

In der Ukraine spielten ukrainische Nationalist*innen, darunter auch Faschist*innen, eine wichtige Rolle bei den Maidan-Protesten und dem darauf folgenden Krieg gegen Russland. Außerdem haben sie, wie das Azov-Bataillon, von dieser Erfahrung profitiert und wurden zu einem legalen Teil der regulären Armee der Ukraine. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft ultranationalistisch oder faschistisch ist. Bei den letzten Wahlen erhielt die extreme Rechte nur 4 % der Stimmen; der ukrainische, jüdische und russischsprachige Präsident wurde mit 73 % gewählt.

Bei der Revolte in Syrien waren die DschihadistInnen anfangs nur Randfiguren, aber sie gewannen immer mehr an Bedeutung, auch dank der Unterstützung von außen, die es ihnen ermöglichte, sich zum Nachteil der Zivilgesellschaft und der fortschrittlichsten Teilnehmer*innen militärisch durchzusetzen. Überall bedroht die extreme Rechte die Ausbreitung der Demokratien und sozialen Revolutionen; dies ist heute in Frankreich zweifellos der Fall. In Frankreich hat dieselbe extreme Rechte versucht, sich während der Bewegung der Gelbwesten durchzusetzen. Die Niederlage der extremen Rechten, lässt sich auf das Vorhandensein egalitärer Positionen und die Entschlossenheit antiautoritärer und antifaschistischer Aktivist*innen, nicht durch das Gerede von Kritiker*innen, zurück führen.

Achtet darauf, dass die Verteidigung des Widerstands der Bevölkerung (sowohl in der Ukraine als auch in Russland) gegen die russische Invasion auch nicht darauf hinausläuft, naiv gegenüber dem politischen Regime zu sein, das aus dem Maidan hervorgegangen ist. Man kann nicht sagen, dass der Sturz von Janukowitsch zu einer echten Ausweitung der direkten Demokratie oder zur Entwicklung einer egalitären Gesellschaft geführt hat, die wir uns für Syrien, Russland, Frankreich und überall auf der Welt wünschen. Einige ukrainische Aktivist*innen bezeichnen die Zeit nach dem Maidan als ›gestohlene Revolution‹, ein Ausdruck, der uns gut bekannt ist. Das ukrainische Regime hat nicht nur den Ultranationalist*innen einen wichtigen Platz eingeräumt, sondern wurde auch von Oligarchen und anderen wiederhergestellt, denen es darum ging, ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen zu verteidigen und ein kapitalistisches und neoliberales Modell der Ungleichheit auszuweiten. Auch wenn unsere Kenntnisse zu diesem Thema noch begrenzt sind, fällt es uns schwer zu glauben, dass das ukrainische Regime keine Verantwortung für die Verschärfung der Spannungen mit den separatistischen Regionen im Donbas trägt.

In Syrien haben die Revolutionär*innen vor Ort jedes Recht, die Entscheidungen der politischen Opposition, die in Istanbul sitzt, scharf zu kritisieren. Wir bedauern nach wie vor ihre Entscheidung, die legitimen Ansprüche von Minderheiten wie den Kurd*innen nicht zu berücksichtigen.

Ein neoliberales Regime und faschistische Elemente sind in allen westlichen Demokratien zu finden. Auch wenn diese Gegner*innen der Emanzipation nicht unterschätzt werden sollten, ist dies kein Grund, den Widerstand der Bevölkerung gegen eine Invasion nicht zu unterstützen. Wir hätten uns im Gegenteil gewünscht, dass es Andere während der syrischen Revolution getan hätten und rufen dazu auf, die fortschrittlichsten selbstorganisierten Strömungen innerhalb der Verteidigung zu unterstützen.

Die arabische Beschriftung lautet »Die Zeit der Männlichkeit und der Männer«.

9. Unterstützung des Widerstands der Bevölkerung in der Ukraine und in Russland.

Wie die arabischen Revolutionen, die Gelbwesten und der Maidan bewiesen haben, werden die Aufstände des 21. Jahrhunderts ideologisch gesehen nicht ›rein‹ sein. Auch wenn wir verstehen, dass es bequemer und motivierender ist, sich mit mächtigen (und siegreichen) Akteur*innen zu identifizieren, dürfen wir unsere Grundprinzipien nicht verraten. Wir fordern die radikale Linke auf, ihre alte konzeptionelle Brille abzunehmen und ihre theoretischen Positionen mit der Realität zu konfrontieren. Diese Positionen müssen an die Realität angepasst werden, nicht umgekehrt.

Aus diesen Gründen rufen wir für die Ukraine dazu auf, vorrangig Initiativen zu unterstützen, die von der Basis ausgehen: die Selbstverteidigungs- und Selbstorganisationsinitiativen, die derzeit florieren. Mensch kann feststellen, dass Menschen, die sich selbst organisieren, oft tatsächlich radikale Vorstellungen von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit verteidigen können – auch wenn sie sich nicht als ›links‹ oder ›progressiv‹ bezeichnen.

Außerdem glauben wir – wie viele russische Aktivist*innen – dass ein Aufstand der Bevölkerung in Russland dazu beitragen könnte, den Krieg zu beenden, genau wie in den Jahren 1905 und 1917. Wenn wir das Ausmaß der Repression in Russland seit Beginn des Krieges betrachten – über zehntausend inhaftierte Demonstrant*innen, Medienzensur, die Sperrung von sozialen Medien und vielleicht bald auch des Internets –, ist es unmöglich, nicht zu hoffen, dass eine Revolution zum Sturz des Regimes führen könnte. Damit würde Putins Verbrechen in Russland, der Ukraine, Syrien und anderswo ein für alle Mal ein Ende gesetzt.

Dies gilt auch für Syrien, wo nach der Internationalisierung des Konflikts die Aufstände der iranischen, russischen oder libanesischen Bevölkerungen keineswegs auf Ablehnung stoßen, sondern uns wieder an die Möglichkeit des Sturzes von Bashar al-Assad glauben lassen könnten.

Ebenso wünschen wir uns radikale Umwälzungen und eine radikale Ausweitung von Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit in den Vereinigten Staaten, Frankreich und jedem anderen Land, das seine Macht auf die Unterdrückung anderer Bevölkerungen oder eines Teils der eigenen Bevölkerung stützt.

10. Aufbau eines neuen Internationalismus von unten.

Obwohl wir radikal gegen alle Imperialismen und alle modernen Formen des Faschismus sind, glauben wir, dass wir uns nicht allein auf antiimperialistische oder antifaschistische Positionen beschränken können. Auch wenn sie dazu dienen, viele Zusammenhänge zu erklären, bergen sie die Gefahr, den revolutionären Kampf auf eine negative Sichtweise zu beschränken, ihn auf Reaktivität zu reduzieren, auf permanenten Widerstand ohne einen Weg nach vorne.

Wir glauben, dass ein positiver und konstruktiver Vorschlag wie der des Internationalismus unerlässlich bleibt. Das bedeutet, Aufstände und Kämpfe für Gleichberechtigung in der ganzen Welt miteinander zu verbinden.

Neben der NATO und Putin gibt es eine dritte Option: den Internationalismus von unten. Ein revolutionärer Internationalismus muss heute die Menschen überall dazu aufrufen, den Widerstand der Bevölkerung in der Ukraine zu verteidigen, genauso wie er sie dazu aufrufen sollte, die syrischen Gemeinderäte, die Widerstandskomitees im Sudan, die Territorialversammlungen in Chile, die Kreisverkehre der Gelbwesten und die palästinensische Intifada zu unterstützen.

Natürlich leben wir im Schatten eines von Staaten, Parteien, Gewerkschaften und großen Organisationen getragenen Arbeiter*innen-Internationalismus, der in der Lage war, sich in den internationalen Konflikten in Spanien 1936 und später in Vietnam und Palästina in den 1960er und 70er Jahren Gehör zu verschaffen.

Heute fehlt es überall auf der Welt – von Syrien bis Frankreich, von der Ukraine bis zu den Vereinigten Staaten – an bedeutenden emanzipatorischen Kräften, die über eine solide Basis verfügen. Während wir auf das Entstehen neuer revolutionärer Organisationen hoffen, die sich auf lokale, selbstorganisierte Initiativen stützen, wie es in Chile der Fall zu sein scheint, verteidigen wir einen Internationalismus, der Aufstände der Bevölkerung unterstützt und alle Geflüchteten willkommen heißt. Auch damit bereiten wir den Boden für eine wirkliche Rückkehr zum Internationalismus, der, so hoffen wir, eines Tages wieder einen alternativen Weg darstellen wird, der sich von den Modellen der westlichen kapitalistischen Demokratien und des kapitalistischen Autoritarismus, sei er russisch oder chinesisch, unterscheidet.

Eine solche Vorstellung von dem, was wir in Syrien taten, hätte der Revolution sicherlich geholfen, eine demokratische und egalitäre Farbe zu erhalten. Wer weiß, vielleicht hätte es sogar zu unserem Sieg beigetragen. Wir sind also Internationalist*innen, nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch als Konsequenz der revolutionären Strategie. Wir verteidigen daher die Notwendigkeit, Verknüpfungen und Bündnisse zwischen selbstorganisierten Kräften zu schaffen, die sich für die Emanzipation aller Menschen ungeachtet ihrer Herkunft einsetzen.

Das ist es, was wir Internationalismus von unten nennen, den Internationalismus der Völker.

Vorgeschlagene Positionen zur russischen Invasion in der Ukraine

  • Erklärt eure volle Unterstützung für den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Invasion.
  • Priorität hat die Unterstützung von selbstorganisierten Gruppen, die emanzipatorische Positionen in der Ukraine vertreten – durch Spenden, humanitäre Hilfe und die Verbreitung ihrer Forderungen.
  • Unterstützt progressive Antikriegs- und Anti-Regime-Kräfte in Russland und veröffentlicht ihre Positionen.
  • Beherbergt ukrainische Exilanten und organisiert Veranstaltungen und Infrastruktur, um ihnen Gehör zu verschaffen.
  • Bekämpft jeden Pro-Putin-Diskurs, insbesondere bei den Linken. Der Krieg in der Ukraine bietet eine entscheidende Gelegenheit, dem Lagerdenken und der toxischen Männlichkeit ein endgültiges Ende zu setzen.
  • Bekämpft den ideologischen Pro-NATO-Diskurs. Verweigerung der Unterstützung für diejenigen in der Ukraine und anderswo, die eine ultranationalistische und rassistische Politik vertreten.
  • Ständige Kritik und Misstrauen gegenüber dem Vorgehen der NATO in der Ukraine und anderswo.
  • Aufrechterhaltung des Drucks auf Regierungen durch Demonstrationen, direkte Aktionen, Transparente, Foren, Petitionen und andere Mittel, um die Forderungen der selbstorganisierten Akteur*innen vor Ort durchzusetzen.

Leider ist das nicht viel, aber es ist alles, was wir anbieten können, solange es hier oder anderswo keine autonome Kraft gibt, die für Gleichheit und Emanzipation kämpft und in der Lage ist, wirtschaftliche, politische oder militärische Unterstützung zu leisten.

Wir hoffen aufrichtig, dass sich diese Positionen dieses Mal durchsetzen werden. Wenn dies der Fall ist, werden wir uns sehr freuen, aber wir werden nie vergessen, dass dies für Syrien bei weitem nicht der Fall war, und dass es das Land teuer zu stehen kam.

The Syrian Canteen of Montreuil and L’équipe des Peuples Veulent


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Quellen und weiteres Material

Die folgenden Texte haben diesen Text beeinflusst – oder sie bieten gute Anknüpfpunkte.

Stimmen des Widerstandes aus der Ukraine und Russland

Die Fragen des Imperialismus und Internationalismus vertiefen

Syrische Perspektiven

Zur Rolle des Westens und der NATO


Anhang: zur Fahne der Syrischen Revolution

Zur Fahne der syrischen Revolution: Zwar wird die mit der syrischen Revolution assoziierte Fahne auch von Milizen getragen, die die Revolution verraten haben, indem sie sich während der Besetzung Nordsyriens und anderer Gebiete mit der türkischen Regierung verbündet haben, doch für die Autor*innen dieses Textes steht dieses Symbol – wie auf den Fotos aus Kafranbel zu sehen – immer noch für den Aufstand von 2011. Es war die syrische Fahne, als Syrien seine Unabhängigkeit von Frankreich erklärte. Im Gegensatz dazu symbolisiert die aktuelle ›offizielle‹ Flagge (mit zwei Sternen) die Vorherrschaft der Baath-Partei und eine neue Kolonisierung Syriens durch die Familie al-Assad.