Der Ex-Worker #81: Krieg und Widerstand in der Ukraine, Teil 1

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Die Geschichte, die zur russischen Invasion führte; ukrainische Anarchist*innen melden sich zu Wort

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Wir veröffentlichen hier eine Übersetzung des Transkripts unseres Podcasts – wir hoffen damit das hören auch für jene zu erleichtern, die nicht ganz fließend englisch sprechen.

Das Transkript wurde von Gefährt*innen übersetzt, teilweise handelt es sich um neue Übersetzungen bereits veröffentlichter Texte. Wir haben sie etwas korrigiert. Die editierten, mit Links und Bildern versehen Texte sind hier verlinkt, wenn ihr lieber lesen und nicht hören und dabei-mitlesen wollt.



Einführung

Hallo und herzlich willkommen zu einer weiteren Folge des Ex-Workers. Während wir dies aufnehmen, umzingeln russische Panzer die ukrainische Hauptstadt Kiew, und Hunderttausende von Flüchtlingen fliehen vor den einfallenden Bomben. Gleichzeitig leisten die Ukrainer*innen erbitterten Widerstand gegen die Invasion, während Antikriegsdemonstrant*innen in ganz Russland angesichts der massiven Polizeirepression den Widerstand nach Hause bringen.

Hier bei CrimethInc. und dem Ex-Worker haben wir mit Anarchist*innen in der ganzen Region kommuniziert, um herauszufinden, was vor sich geht und wie wir unsere Gefährt*innen, die von der Invasion betroffen sind, unterstützen und ihnen Gehör verschaffen können. In dieser Folge sammeln wir einige der Materialien, die wir in den letzten Wochen veröffentlicht haben, um einen kritischen Kontext für das zu schaffen, was heute in der Ukraine passiert.

Wir beginnen mit einem langen Beitrag mit dem Titel ›Zwischen zwei Fronten‹, der vor einem Monat veröffentlicht wurde, als die Gefahr eines Krieges immer größer wurde. Darin kommen verschiedene anarchistische Stimmen aus der Region zu Wort, die in Bezug auf Analyse und Strategie oft unterschiedlicher Meinung sind, sich aber einig sind in dem Versuch, einen Weg nach vorne zu finden, der alle Imperien herausfordert. Ihr erfahrt etwas über die Geschichte der Ukraine seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Protestbewegung auf dem Maidan, die 2014 Präsident Janukowitsch stürzte, die Ursprünge des Krieges in der Ostukraine und die russische Annexion der Krim, den anhaltenden militärischen Konflikt und die Spannungen sowie die politischen Ängste, die zu dieser Eskalation geführt haben. Wir veröffentlichen auch einen langen Essay, der von einer Gruppe ukrainischer Anarchist*innen gemeinsam verfasst wurde und der die Entwicklung der anarchistischen Bewegung in diesem Zeitraum beschreibt, die verschiedenen politischen Kräfte in der Landschaft untersucht und die Risiken und das revolutionäre Potenzial der aktuellen Situation bewertet. Und wir schließen mit einer kurzen Erklärung russischer Anarchist*innen zum Ausbruch des Krieges, um zu verdeutlichen, wie Antiautoritäre auf beiden Seiten der Grenzen die Verpflichtung zum Widerstand gegen den russischen Imperialismus teilen und gleichzeitig auf eine breitere Vision der Befreiung hinarbeiten.

Noch eine Anmerkung, bevor wir beginnen. Wir wissen jetzt, was wir nicht wussten, als diese Texte geschrieben wurden: dass Putin tatsächlich eine umfassende militärische Invasion der Ukraine befehlen würde. Mit diesem Wissen werden einige Teile der Texte, den ihr hören werdet, im Nachhinein seltsam klingen; aber wir haben uns absichtlich dafür entschieden, sie so zu lassen, wie sie geschrieben wurden. Wenn wir zum Beispiel beschlossen haben, die von einigen ukrainischen Anarchist*innen geäußerte Meinung, dass eine russische Invasion unwahrscheinlich sei, zu übernehmen, dann nicht, um zu sagen: ›Wir haben es euch gesagt.‹ Wir wollen damit zeigen, dass die Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelt haben, den Menschen vor Ort nur wenige Tage vor der Invasion nicht unvermeidlich erschien, und wie schwierig es ist, inmitten einer Flut von Desinformationen und konkurrierenden imperialen Agenden mit ihren eigenen Mediensprachrohren die Richtung der Ereignisse vorherzusagen. Für diejenigen unter euch, die jetzt zuhören, während die Bomben fallen, hoffen wir, dass diese Folge einen entscheidenden Kontext liefert, um zu verstehen, wie wir hierher gekommen sind; für diejenigen unter euch, die Monate oder Jahre in der Zukunft zuhören, hoffen wir, dass sie einen Hinweis darauf gibt, wie Anarchist*innen die Situation im Vorfeld des Krieges bewerteten, um Einsichten darüber zu gewinnen, wie wir lernen könnten, die komplexen Konfliktsituationen, mit denen wir uns in Zukunft sicherlich konfrontiert sehen werden, besser zu analysieren.

Es ist eine enorme Menge an Desinformation im Umlauf, die größtenteils aus der russischen Propaganda stammt (aber auch von Pro-NATO-Kräften). Leider haben einige Teile der Linken in den USA und darüber hinaus viele von Putins Argumenten unkritisch übernommen: dass die ukrainische Regierung in Wirklichkeit von Faschist*innen kontrolliert wird und dass die russische Invasion kein Imperialismus ist, sondern eine defensive oder sogar antifaschistische oder antinazistische Aktion. Wir hoffen, dass die folgenden Berichte, die alle von Anarchist*innen in der Region verfasst und so gründlich wie möglich überprüft wurden, euch als Zuhörer*innen helfen werden, euch zu orientieren und Wege zur Solidarität zu finden.

Es war eine Herausforderung, mit Gefährt*innen in Kontakt zu bleiben, die in einer sich schnell verändernden Situation um ihr Leben kämpfen. Aber während wir diese Folge abschließen, arbeiten wir bereits an einer zweiten, die bald erscheinen wird und in der wir Berichte aus erster Hand über die Invasion in der Ukraine und den Antikriegs-Widerstand in Russland bringen werden. Bleibt also dran, wenn es soweit ist. Aber jetzt hoffen wir, dass ihr diese Hintergrundinformationen und Analysen nützlich findet, um zu verstehen, was heute geschieht. Also - fangen wir an.

Zwischen zwei Fronten

Wir eröffnen die Diskussion über den russischen Krieg in der Ukraine mit einem Text, den wir erstmals am 3. Februar veröffentlicht haben: Ukraine: Zwischen zwei Fronten – Anarchist*innen in der Region über die Kriegsgefahr.

Wie ist der Konflikt zu verstehen, der sich um die russischen Truppen abspielt, die sich derzeit an der ukrainischen Grenze aufhalten? Handelt es sich nur um eine Inszenierung beider Seiten, die darauf abzielt, sich ein Druckmittel zu sichern und die Opposition zu destabilisieren?

Leider können selbst die erfahrensten geopolitischen Akteur*innen, in der heutigen unbeständigen Weltlage, mit der Absicht in einen Showdown gehen, nur um ein wenig Säbelrasseln zu betreiben, und trotzdem damit überfordert sein. Vielleicht ist das, was hier geschieht, nur Effekthascherei, aber es könnte trotzdem zu einem Krieg führen. Im vergangenen Monat wurden russische Truppen in Kasachstan und Belarus stationiert, was Putins Rolle als Garant für Diktaturen untermauert und das Ausmaß seiner Ambitionen verdeutlicht, ganz zu schweigen von den prekären Machtverhältnissen in der gesamten Region. Die Vereinigten Staaten entsenden nun auch Truppen nach Osteuropa und verschärfen damit die Spannungen in der Verfolgung rivalisierender imperialer Ambitionen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij, der Anfang 2021 gegen Putins Verbündete in der Ukraine in die Offensive gegangen ist, hat die Regierung Bidens kürzlich aufgefordert, ihre Unkenrufe zurückzunehmen; dies bedeutet nicht, dass die Kriegsgefahr nicht real ist, sondern vielmehr, dass Zelenskij immer noch auf die ukrainische Wirtschaft aufpassen muss – unabhängig davon, ob der Krieg noch Wochen, Monate oder Jahre andauert.

Die Aussicht auf eine russische Invasion wirft für Anarchist*innen heikle Fragen auf. Wie stellen wir uns gegen eine russische Militäraggression, ohne uns einfach in die Agenda der Vereinigten Staaten und anderer Regierungen einzureihen? Wie können wir uns weiterhin den ukrainischen Kapitalist*innen und Faschist*innen widersetzen, ohne der russischen Regierung dabei zu helfen, ein Narrativ zur Rechtfertigung einer direkten oder indirekten Intervention zu entwickeln? Wie können wir dem Leben und der Freiheit der einfachen Menschen in der Ukraine und den Nachbarländern Vorrang einräumen?

Und was, wenn der Krieg nicht die einzige Gefahr in diesem Land ist? Wie vermeiden wir es, unsere Bewegungen auf Tochtergesellschaften staatlicher Kräfte zu reduzieren und gleichzeitig in einer Zeit eskalierender Konflikte relevant zu bleiben? Wie können wir uns auch mitten im Krieg weiterhin gegen alle Formen der Unterdrückung organisieren, ohne die gleiche Logik wie staatliche Militärs zu übernehmen?

Es ist nicht das erste Mal, dass die Ereignisse in der Ukraine schwierige Fragen aufwerfen. Im Jahr 2014, während der Besetzung des Maidan, die schließlich zum Sturz der Regierung von Viktor Janukowitsch führte, gewannen Nationalist*innen und Faschist*innen innerhalb der Bewegung an Macht. Wie ein Zeuge damals schrieb:

»Die ukrainische linke und anarchistische Bewegung als Ganzes befand sich zwischen zwei Fronten. Wenn der Maidan-Protest gewinnt … kann man schon jetzt das Erstarken und Entstehen neuer rechtsextremer Organisationen vorhersagen, die sich auf die Anwendung von Gewalt und Terror gegen politische Gegner konzentrieren. Wenn Janukowitsch gewinnt, wird eine Welle schwerster Repressionen wahllos alle treffen, die nicht loyal gegenüber den Behörden sind.« -Lemberg, 19. bis 21. Februar 2014

Es ist wichtig zu betonen, dass nichts davon unvermeidlich war: Eine lebendigere anarchistische Bewegung hätte in Kiew zu anderen Ergebnissen führen können, wie es in Charkiw der Fall war.

Damals bezeichneten wir den Aufstieg der Faschist*innen bei den Maidan-Protesten als »einen reaktionären Gegenangriff im Raum der sozialen Bewegungen«:

Dies könnte ein Vorzeichen für Schlimmeres sein – wir können uns eine Zukunft mit rivalisierenden Faschismen vorstellen, in der die Möglichkeit eines Kampfes für echte Befreiung völlig unsichtbar wird. Heute sind wir acht Jahre weiter in dieser Zukunft. Die Tragödien in der Ukraine – von 2014 über den von Russland unterstützten Aufstand in den Regionen Donezk und Luhansk bis heute – zeigen die katastrophalen Folgen der Schwäche der antiautoritären Bewegungen in Russland, der Ukraine und den Vereinigten Staaten.

In diesem Zusammenhang sehen wir, wie staatliche Akteur*innen auf beiden Seiten des Konflikts die Diskurse des Antifaschismus und Antiimperialismus mobilisieren, um Freiwillige zu rekrutieren und ihre Gegner*innen zu delegitimieren. Faschist*innen und selbsternannte Antifaschist*innen kämpfen bereits seit Jahren auf beiden Seiten des Russland/Ukraine-Konflikts, ebenso wie Anhänger*innen beider Seiten die jeweils andere Seite als imperialistisch bezeichnet haben. Im 21. Jahrhundert wird es wahrscheinlich immer mehr bewaffnete Kämpfe geben, für die Anarchist*innen und andere Antifaschist*innen und Antiimperialist*innen rekrutiert werden. Wir sollten uns weder dadurch irrelevant machen, dass wir uns aus allen Konfrontationen heraushalten, noch sollten wir uns durch ein Gefühl der Dringlichkeit zu kostspieligen Fehlentscheidungen verleiten lassen. Wenn wir uns mit der Begründung, dass die Situation unübersichtlich ist und es auf beiden Seiten nicht so gute Menschen gibt, von einer Stellungnahme fernhalten, werden wir für die daraus resultierenden Massaker mitverantwortlich sein.

Bevor wir die Perspektiven aus der Ukraine vorstellen, werden wir einige der anderen Vorschläge überprüfen, wie sich Anarchist*innen engagieren könnten.

In seinem Text »Warum sollten wir die Ukraine unterstützen?« argumentiert Antti Rautiainen, ein finnischer Anarchist, der einige Jahre in Russland verbracht hat, dass die wichtigste Priorität darin besteht, sich einem russischen Eroberungskrieg entgegenzustellen:

Die Ergebnisse der ersten 30 Jahre der ›Demokratie‹ in der Ukraine sind, gelinde gesagt, nicht überzeugend. Die Wirtschaft und die Medien befinden sich in den Händen rivalisierender Oligarchen, die Korruption hat ein schwindelerregendes Ausmaß erreicht, die wirtschaftliche Entwicklung bleibt hinter der vieler afrikanischer Länder zurück, und darüber hinaus ist das Land zum Zentrum der weltweiten Neonazi-Bewegung geworden. Und diese Probleme sind im Wesentlichen hausgemacht und nicht das Ergebnis von Intrigen des Kremls.

Doch die Alternative ist noch schlimmer.

Putins Regierung ist der KGB ohne Sozialismus. Wie wir dokumentiert haben, setzen Putins Untergebene neben altmodischer Polizeigewalt routinemäßig Folter und erfundene Verschwörungsfälle ein, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Laut Antti ist »Putin nicht der Gendarm Europas, sondern der Gendarm der ganzen Welt« – von Syrien bis Myanmar, wann immer ein Diktator Tausende seiner eigenen Leute foltert und tötet, ist Putin da, um ihn zu unterstützen.

Im Gegensatz zu dem unten interviewten Anarchist*innen vertritt Antti die Ansicht, dass Anarchist*innen im Falle einer russischen Invasion das ukrainische Militär unterstützen sollten und im Falle einer russischen Besetzung bereit sein sollten, direkt mit einer staatsnahen Widerstandsorganisation zusammenzuarbeiten, sollte eine solche existieren.

Dies wirft eine Reihe von schwierigen Fragen auf. Sind Anarchist*innen in der Lage, einem staatlichen Militär nützliche Hilfe zu leisten? Wenn sie es können, sollten sie es tun? Wie könnten sie das ukrainische Militär unterstützen, ohne es dadurch in die Lage zu versetzen, für soziale Bewegungen und Minderheiten in der Ukraine noch gefährlicher zu werden, ganz zu schweigen von der Legitimierung des faschistischen Asow-Regiments? Einer der Grundsätze der dreiseitigen Kriegsführung lautet, dass man nicht den*die eine*n Gegner*in stärken darf, um den*die anderen zu besiegen. Dies wird durch das Unglück der Anarchist*innen in der Ukraine vor einem Jahrhundert veranschaulicht, die dem Sieg über die reaktionäre Weiße Armee Priorität einräumten, nur um dann von Trotzkis Roter Armee verraten und ermordet zu werden.

Wenn Anarchist*innen mit staatstragenden Gruppen zusammenarbeiten, wie es bereits in Rojava und anderswo geschehen ist, ist es umso wichtiger, eine Kritik an der Staatsmacht zu formulieren und einen differenzierten Rahmen zu entwickeln, um die Ergebnisse solcher Experimente zu bewerten.

Die beste Alternative zum Militarismus wäre der Aufbau einer internationalen Bewegung, die die militärischen Kräfte aller Nationen außer Gefecht setzen könnte. Die ukrainischen Radikalen haben verständlicherweise ihren Zynismus darüber zum Ausdruck gebracht, dass normale Russ*innen nichts tun werden, um Putins Kriegsanstrengungen zu verhindern. Dies erinnert an die Revolte in Hongkong im Jahr 2019, die von einigen Teilnehmenden ebenfalls mit ethnischen Begriffen umschrieben wurde. In der Tat könnten nur starke revolutionäre Bewegungen in China selbst Hongkong vor der Vorherrschaft der chinesischen Regierung bewahren.

In Anbetracht der Tatsache, dass Russland in der ukrainischen Donbas-Region unter anderem aufgrund der Spannungen zwischen ukrainischer und russischer Identität Fuß fassen konnte, wird die antirussische Stimmung Putin nur in die Hände spielen. Alles, was gegen die russische Bevölkerung, die Sprache oder die Kultur polarisiert, wird die Bemühungen des russischen Staates um die Schaffung kleiner abtrünniger Republiken erleichtern. Ebenso zeigt ein Blick auf die Geschichte des Nationalismus, dass jeder Widerstand gegen die russische Militäraggression, der die Macht des ukrainischen Nationalismus stärkt, nur den Weg für künftiges Blutvergießen ebnen wird.

Was die Aussicht auf einen Krieg angeht, so haben Anarchist*innen aus Belarus in einem Artikel mit dem Titel ›Wenn es nur keinen Krieg gäbe‹ einige seiner vielen Nachteile formuliert:

»Anarchist*innen haben Kriege nie begrüßt, weil sie die Bevölkerung von den wirklichen Problemen ablenken, die uns ständig umgeben. Statt nach Freiheit zu streben, fängt die Bevölkerung an, über die Erfolge des Fortschritts an den Fronten zu diskutieren. An die Stelle der internationalen Solidarität tritt der Nationalismus, der aus Brüdern, Schwestern und genoss*innen Todfeinde gemacht hat. Der Krieg hat nichts Fortschrittliches an sich. Der Krieg ist der Triumph einer menschenfeindlichen Ideologie der Macht. Heute wie damals ist der Krieg die Angelegenheit der Herrschenden, nur dass die einfachen Menschen dabei sterben. In patriotischer Trance oder einfach nur des Geldes wegen.«

Doch die weltweite anarchistische Bewegung ist nicht in der Lage, den Menschen in der Ukraine eine todsichere Alternative zum Krieg zu bieten. So wie der Aufstand in Kasachstan letztlich mit roher Gewalt niedergeschlagen wurde, sind fast alle Aufstände auf der Welt seit 2019 daran gescheitert, die Regierungen zu stürzen, die sie herausforderten. Wir befinden uns in einer Zeit vernetzter weltweiter Repression, und die grundlegenden Probleme, die sich daraus ergeben, sind noch nicht gelöst. Der blutige Bürgerkrieg in Syrien, der zum Teil auf Putins Unterstützung für Assad zurückzuführen ist, ist ein Beispiel dafür, wie es in vielen Teilen der Welt aussehen kann, wenn Revolutionen weiterhin scheitern und stattdessen Bürgerkriege entstehen. Wir sind vielleicht nicht in der Lage, die kommenden Kriege zu verhindern, aber es liegt immer noch an uns, herauszufinden, wie wir inmitten dieser Kriege weiterhin revolutionäre Veränderungen verfolgen können.

Es ist erwähnenswert, dass zumindest ein ukrainischer Anarchist, ein Redakteur der Zeitschrift Assembly in Kharkov, nicht besonders besorgt über eine russische Invasion in der Ukraine zu sein scheint, da er dies für eine übertriebene Erfindung westlicher Medien hält. Wir hoffen, dass diese Person Recht hat – auch wenn wir feststellen, dass russische und belarussische Medien ebenfalls dramatische Geschichten über einen drohenden Konflikt um die Ukraine veröffentlichen.

Abschließend möchten wir auf dieses Kommuniqué einer Aktion in Schweden aufmerksam machen, die sich mit den Rebell*innen in Kasachstan solidarisiert, indem sie einen Wohnwagen des Shell-Konzerns ins Visier nimmt, um auf die Mitschuld westlicher Ölkonzerne am Blutvergießen in Kasachstan und anderen von Russland bedrohten Orten aufmerksam zu machen. Obwohl klandestine Aktionen kein Ersatz für eine starke Bewegung sind, gelingt es der Aktion auf bewundernswerte Weise, die Verflechtung der russischen Autokratie mit westlichen Kapitalist*innen aufzuzeigen: Russische Bajonette verteidigten den Thron von Putins Vasallen Tokajew. Aber nicht nur ihn. Schauen Sie sich nur die Ölförderung an, einen der wichtigsten Wirtschaftszweige Kasachstans. Westliche Konzerne haben einen großen Anteil am Ölsektor des Landes. Im Falle eines Sieges der Rebell*innen könnte die Lokalbevölkerung das Eigentum dieser Konzerne enteignen. Die russische Intervention und die Niederschlagung des Aufstands verschafften nicht nur dem Oligarchenregime blutige ›Stabilität‹, sondern auch den westlichen Kapitalist*innen, die von den natürlichen Ressourcen Kasachstans schmarotzen.

Einer der westlichen Konzerne, die in Kasachstan aktiv sind, ist die britisch-niederländische Shell. So beträgt ihr Anteil am Karachaganak-Feld, einem der drei größten des Landes, etwa 30%. Und das sind nicht die einzigen Anlagen des Konzerns in Kasachstan. Es ist nicht verwunderlich, dass das russische Regime Truppen schickte, um den Reichtum der Eigentümer*innen von Shell zu schützen. Shell hat in den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 investiert und setzt sich in der europäischen Politik konsequent für die Interessen des russischen Regimes ein. (…)

Die Theorie und Praxis, die den Widerstand gegen Diktaturen, Kapitalismus, imperialistische Kriege und die Zerstörung der Natur in einem einzigen großen Kampf vereint, ist der Anarchismus. Die Erreichung der wahren Freiheit von allen Formen der Unterdrückung wird unter dem schwarzen Banner der Anarchie stattfinden.

Nun könnte der russische Staat einen weiteren imperialistischen Krieg entfesseln. Wir möchten an die russischen Soldat*innen appellieren: Ihr werdet geschickt, um für die Interessen der gierigen und grausamen Herrscher und der Reichen zu töten und zu sterben. Wenn ein Krieg ausbricht, desertiert mit euren Waffen, entwaffnet die Offiziere, schließt euch der revolutionären Bewegung an.

INTERVIEW: ›ANARCHIST*INNEN UND KRIEG IN DER UKRAINE‹

Wir geben hier einen Auszug aus einem Interview wieder, das ein im Ausland lebender belarussischer Anarchist mit einem anarchistischen Aktivisten geführt hat, der an verschiedenen Kämpfen in der Ukraine beteiligt ist. Die Audioversion ist bei Elephant in the Room, einem anarchistischen Audioprojekt aus Dresden, zu finden. Einen Link zum vollständigen Interview findet ihr auf unserer Website, crimethinc.com/podcasts.

Ukrainischer Anarchist: Zunächst einmal vielen Dank, dass ich hier sein darf.

Über die Lage der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion würde ich sagen, dass sie ziemlich turbulent war. Sie durchlief mehrere verschiedene Phasen. Unter Präsident [Leonid] Kutschma und während des größten Teils der 1990er Jahre war sie ein loser Staat mit verschiedenen oligarchischen Gruppen, die um verschiedene Machtsphären konkurrierten (bis zu einem gewissen Grad ist das auch heute noch so). Wichtig ist aber auch, dass die Politik des russischen Staates in dieser Zeit, in den 1990er Jahren, ganz anders war als heute. Unter der Präsidentschaft Jelzins war es keine besonders imperialistische Politik, zumindest soweit ich das beurteilen kann. Natürlich gab es eine sehr enge Interaktion zwischen den beiden Regierungen, sowohl der Wirtschaft als auch der staatlichen Behörden zwischen Russland und der Ukraine. Aber es war nicht so, dass man von der Ukraine erwartete, dass sie sich Russland unterordnet, auch wenn es schon während der Sowjetunion viele wirtschaftliche Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Russland und der Ukraine gab, die auch nach deren Zusammenbruch weiter bestanden.

Die Situation änderte sich, als Kutschma aus dem Präsidentenamt ausschied und ein Wettstreit zwischen den [ukrainischen] Präsidenten [Viktor] Janukowitsch und [Viktor] Juschtschenko entstand. Viktor Juschtschenko vertrat diese eher westlich und national orientierte Perspektive. Dieser Konflikt erreichte seinen Höhepunkt während der ersten Maidan-Proteste1 im Jahr 2004, würde ich sagen. Juschtschenko gewann, und deshalb war dieser westlichere Politikkurs und diese Distanzierung von Russland eine Zeit lang die vorherrschende politische Strömung in der Ukraine. Als 2008 der Krieg in Georgien (um Südossetien) ausbrach, ergriff die Ukraine eindeutig Partei - nur politisch, nicht militärisch - und stellte sich mehr auf die georgische Seite des Konflikts.

Aber es ist wichtig zu verstehen, dass es in der Ukraine viele verschiedene kulturelle Gruppen, Gruppen mit wirtschaftlichen und politischen Interessen und Gruppen mit unterschiedlichen ideologischen Tendenzen gibt. Sie sind nicht alle gleichberechtigt nebeneinander. Es handelt sich um ein wirklich komplexes und vielschichtiges Mosaik, das viel Verwirrung stiftet und eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Strömungen und Entwicklungen hervorbringt. Diese sind selbst innerhalb der Ukraine manchmal nicht einfach zu verfolgen und zu verstehen.

Obwohl Juschtschenko eine Zeit lang gewann, gab es einen Konflikt zwischen den eher westlich und antirussisch orientierten Bevölkerungsgruppen auf der einen Seite und den eher pro-russischen Gruppen auf der anderen Seite, oder, ich würde sagen, Gruppen mit einer postsowjetischen oder sowjetischen Mentalität. Und dieser Konflikt fand auch zwischen politischen Gruppen statt, die einen westlicheren Kurs vertraten, und solchen, wie einigen Oligarchen- und Mafia-Clans, die einer Zusammenarbeit mit Russland und den russischen Behörden offener gegenüberstanden. Es ist wichtig zu verstehen, dass es in der Ukraine viel Korruption gibt; eine Menge dubioser Politik findet ständig hinter verschlossenen Türen statt. Viel mehr als zum Beispiel in Europa - obwohl wir alle wissen, dass es auch in Europa so etwas gibt - stimmen die offiziellen Erklärungen der lokalen Behörden nicht unbedingt mit ihren tatsächlichen Aktivitäten überein.

Nach der Präsidentschaft von Juschtschenko kandidierte Janukowitsch erneut für das Präsidentenamt und gewann schließlich [2010] die Wahlen. Danach wurde die Situation sehr unklar, denn er verfolgte einen sehr verschlagenen Ansatz, würde ich sagen - er versuchte ständig, so zu tun, als ob er sowohl mit dem Westen als auch mit den russischen Behörden zu tun hätte. Dadurch hat er in der Bevölkerung viel Verwirrung gestiftet. Nachdem er zunächst einige Vereinbarungen mit der Europäischen Union getroffen hatte, versuchte er unerwartet, diese zu annullieren und sich offiziell in den russischen Einflussbereich zu begeben. Dies führte zu Unstimmigkeiten und Unruhen, die zu den [zweiten] Maidan-Protesten führten, die im Spätherbst 2013 begannen.

Interviewer*in: Dieses Jahr begann mit einem riesigen Shitstorm. Die Russen marschierten mit ihren Partnern in Kasachstan ein und halfen, das Tokajew-Regime zu stabilisieren. Jetzt besteht die Möglichkeit eines Krieges in der Ukraine. Können Sie uns sagen, warum Putin diese wirklich aggressiven Schritte so schnell unternommen hat? Ich glaube, es sind schon einige Monate vergangen, seit die Armee an die ukrainische Grenze verlegt wurde, und die Kasachstan-Krise und so weiter. Was denken Sie über die Gründe, warum dies geschieht?

Ukrainischer Anarchist: Ganz allgemein und im Großen und Ganzen befindet sich das Putin-Regime in einer verzweifelten Situation. Einerseits ist es immer noch sehr mächtig, hat viele Ressourcen und eine große Kontrolle über sein eigenes Territorium. Aber gleichzeitig gleitet ihm die Macht wie Sand zwischen den Fingern weg. An verschiedenen Stellen gibt es deutliche Risse in diesem Putin-Konzept.

An verschiedenen Orten gibt es deutliche Risse in diesem von Putin entworfenen System von Grenzstaaten, die Satelliten seines Regimes sein sollen, wie Kasachstan, Belarus, Kirgisistan und Armenien. In allen genannten Ländern gibt es sehr starke soziale Strömungen, große soziale Unruhen und Proteste. Geopolitisch gesehen besteht die ernste Gefahr, dass die Kontrolle über diese benachbarten Gebiete schwinden wird.

Auch intern hat sich die wirtschaftliche Lage in Russland seit 2014 verschlechtert, genauer gesagt seit den Ereignissen auf dem Maidan, der Übernahme der Krim und den umfangreichen Sanktionen der westlichen Mächte gegen Russland. Dies führte zu einem stetigen wirtschaftlichen Rückgang, und nun ist ein Großteil der Popularität, die Putin nach der Übernahme der Krim gewonnen hatte, bereits verloren. Hinzu kam die COVID-19-Pandemie, die nicht gerade zu seiner Popularität in der Bevölkerung beigetragen hat. Jetzt ist er sogar innerhalb Russlands nicht mehr sehr beliebt.

Das ist also die Situation, wenn Sie Putin sind: Sie sind immer noch sehr mächtig, aber gleichzeitig sehen Sie, wie sich Situationen abspielen, die nicht zu Ihren Gunsten sind. Ich denke, all diese Aggressionen sind verzweifelte Versuche, seine Macht nicht zu verlieren, seine autoritäre Herrschaft irgendwie zu erhalten.

Interviewer*in: Wie würden Sie die Politik der derzeitigen Regierung beschreiben? Ich erinnere mich, dass Zelensky ein Populist war, der sagte: Ja, wir werden die Korruption bekämpfen, wir werden alle glücklich machen und so weiter. Wie sieht seine Politik im Moment aus? Ich höre in der westlichen Hemisphäre auch, dass der Krieg nicht so wichtig ist, weil er im Grunde nur ein faschistisches Regime durch ein anderes faschistisches Regime ersetzt. Inwieweit unterscheiden sich die Politik und die “liberalen Freiheiten” in der Ukraine derzeit von Russland?

Ukrainischer Anarchist: Zunächst einmal ist das Zelenski-Regime definitiv nicht faschistisch, zumindest nicht im Moment - und sei es nur, weil es noch nicht so viel Kontrolle hat. Das liegt daran, dass die Staatsmacht in der Ukraine nicht so gefestigt ist wie in Russland oder in Belarus. Aber dieses Regime ist natürlich immer noch keineswegs “gut”. Es sind immer noch korrupte Lügner, die im Grunde genommen neoliberalen Schwachsinn machen. Ich würde sagen, das ist das Design des größten Teils ihrer Politik. Aber dennoch ist dieses Land zumindest in seiner sozialen Struktur viel weniger autoritär, auch wenn es in seiner wirtschaftlichen Struktur super beschissen ist. Das ist der Grund, warum so viele politische Dissident*innen aus Belarus, Russland und auch aus Kasachstan hier Unterschlupf finden. Weil es hier keine einheitliche Staatslinie gibt, gibt es nicht so viele Möglichkeiten für den Staat, die gesamte soziale Landschaft zu kontrollieren und zu gestalten - auch wenn der Staat, wie ich schon sagte, das jetzt verstärkt versucht.

Eine Übernahme der Ukraine durch die russischen Behörden oder eine eindeutig pro-russische Regierung wäre also eine Katastrophe, weil ein etwas freieres Gebiet - oder ich würde sagen, eher eine “Grauzone”, wie die Ukraine jetzt ist - unter die Kontrolle der autoritären und harten Diktatur Putins geraten würde. Um es klar zu sagen: Der ukrainische Staat ist immer noch ein beschissenes populistisches Regime, das seit der Machtübernahme durch Zelensky keine positiven politischen Schritte unternommen hat, soweit ich das beurteilen kann. Der einzige konkrete Schritt, an den ich mich im Moment erinnern kann, war dieses Gesetz über landwirtschaftliche Flächen, die nun frei auf dem Markt gekauft und verkauft werden können, während es vorher einige Hindernisse gab. Wir glauben, dass dieses Gesetz bald zu einer Konzentration der landwirtschaftlichen Flächen in den Händen einiger großer Agrarkonzerne führen wird. Die gesamte neoliberale Politik wird also in die Tat umgesetzt.

Dennoch sehen wir viel Armut, sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Natürlich ist die Ukraine ein ärmeres Land, weil sie nicht so viel Öl und Gas hat. Aber wenn Russland die Ukraine besetzt, glauben wir dann wirklich, dass die lokale Arbeiterklasse und die armen Menschen von dem neuen Besatzungsregime wirtschaftlich profitieren werden? Nein, natürlich nicht. Es fällt mir wirklich schwer, daran zu glauben. Denn die wirtschaftliche Lage Russlands wird immer schlechter, und sie haben einfach keine Ressourcen, die sie mit anderen Menschen teilen könnten. Um diese große Brücke vom russischen Festland zur Krim zu bauen, musste der Bau mehrerer Brücken in Sibirien und anderen Teilen Russlands eingestellt werden. Sie haben also keine Ressourcen, die sie mit den Menschen hier vor Ort teilen könnten, selbst wenn sie sie irgendwie freikaufen wollten. Und im Bereich Politik und Gesellschaft können wir vom Putin-Regime natürlich nichts Besseres erwarten. In Sachen Diktatur, in Sachen staatlicher Kontrolle und staatlicher Unterdrückung ist das Putin-Regime derzeit viel gefährlicher als das lokale Regime. Das lokale Regime ist nicht “besser”, es ist nur weniger mächtig.

Du kannst das vollständige Interview, das wir hier aus Elephant in the Room auszugsweise wiedergeben, über den Link auf unserer Website crimethinc.com/podcasts hören. Im letzten Abschnitt des Artikels »Zwischen zwei Fronten« geben wir einen Bericht und eine Analyse aus erster Hand von einem Anarchisten wieder, der in einem Teil des von Russland beanspruchten Territoriums aufgewachsen ist und die Schwierigkeiten einschätzt, mit denen Anarchisten zwischen rivalisierenden Nationalismen und Militarismen konfrontiert sind.

EIN BLICK AUS KIEW

Die Ukraine befindet sich nun schon seit acht Jahren im Krieg mit Russland und seinen Stellvertretern. Die Zahl der Todesopfer hat bereits 14.000 überschritten. Doch während sich russische Truppen entlang unserer nördlichen und östlichen Grenzen sammeln, ist es das erste Mal in der Geschichte dieses Krieges - oder sogar in der gesamten Geschichte der Ukraine, soweit ich mich erinnere -, dass ich regelmäßig Nachrichten von meinen ausländischen Freunden erhalte, von denen ich zum Teil seit Jahren nichts mehr gehört habe, die alle wissen wollen, ob ich in Sicherheit bin und ob die Bedrohung so groß ist, wie man ihnen gesagt hat. Diese Freunde haben unterschiedliche politische Ansichten, Alter, Berufe, Lebenserfahrungen und Hintergründe. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist, dass sie alle aus den Vereinigten Staaten kommen.

Der Rest meiner Kameraden auf der ganzen Welt scheint sich darüber weniger Sorgen zu machen. Letzte Woche hatte ich einen Freund aus Griechenland und einen anderen aus Deutschland zu Gast, die beide überrascht zu sein schienen, als sie erfuhren, dass sie in einem Land gelandet waren, das jeden Moment zum Epizentrum des Dritten Weltkriegs werden soll (was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ihre Flugtickets nur acht Euro kosteten). Ich wäre auch überrascht gewesen, wenn ich nicht zufällig selbst US-Fernsehen sehen würde. In den letzten Wochen ist mir aufgefallen, dass in allen möglichen Talkshows, die ich online sehe, immer wieder auf die Situation in der Ukraine hingewiesen wird. Es kommt mir fast so vor, als ob in den Vereinigten Staaten jetzt mehr über die Ukraine gesprochen wird als während des Korruptionsskandals von Joe Bidens Sohn.

Was man als Ukrainer von diesem plötzlichen Anstieg des Interesses an unserem endlosen Kampf gegen unseren missbräuchlichen imperialistischen Nachbarn hält, hängt von der eigenen politischen Einstellung ab. Als wir uns 1994 im Rahmen des Budapester Memorandums bereit erklärten, unsere Atomwaffen aufzugeben, versprachen Russland, das Vereinigte Königreich und die USA, die Unabhängigkeit, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren und zu schützen und von jeglicher Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der Ukraine abzusehen. Als sich all diese Versprechen nur zwanzig Jahre später als völlig wertlos erwiesen, konnten viele Menschen hier nicht anders, als sich betrogen zu fühlen. Viele dieser Menschen haben nun das Gefühl, dass es für die USA an der Zeit ist, ihre Versprechen einzulösen. Ohne diesen Kontext wäre es äußerst schwierig zu verstehen, warum einige Menschen in der Ukraine applaudieren, wenn ein Offshore-Imperium, das die Ukraine als “Russlands Hinterhof” bezeichnet, Kriegsflugzeuge voller Soldaten über dieses souveräne Land fliegt.

Es gibt jedoch auch Menschen in der Ukraine, die wie ich ihr Misstrauen nicht auf das Imperium beschränken, mit dem wir unglücklicherweise eine gemeinsame Grenze haben, sondern dieses wohlverdiente Misstrauen auf den Rest des Landes ausdehnen. Selbst für diejenigen, die wirklich glauben, dass der Feind ihres Feindes ihr Freund ist, stellt sich die Frage, wie viele dieser Freunde, die die USA in der ganzen Welt gewonnen haben - Vietnamesen, Afghanen, Kurden und andere - es nicht bereut haben, einen solchen Verbündeten zu haben.

Diese recht niedrige Messlatte des kritischen Denkens ist in der Ukraine leider nicht annähernd so verbreitet wie kurzsichtiger Patriotismus, Nationalismus und Militarismus, die hier mit zunehmender Kriegshysterie an Fahrt gewinnen. In der Ukraine wird nicht viel darüber diskutiert, warum die USA und das Vereinigte Königreich jetzt endlich auf uns aufmerksam geworden sind, nachdem wir acht schmerzhafte Jahre lang Menschenleben und Gebiete verloren haben - darunter auch meine Heimatstadt Luhansk. Und diese fehlende Neugier auf die Motive der Imperien wirkt in beide Richtungen: So wie es den meisten von uns egal sein könnte, was Bidens Regierung von diesem Machtspiel hat, beschränkt sich unser Verständnis dafür, warum Putin jetzt versuchen würde, weiter einzumarschieren, auf “Dieser blutrünstige Irre ist einfach verrückt”. Kaum jemand zieht die Möglichkeit in Betracht, dass mehr dahinterstecken könnte.

Noch weniger stellen die Behauptung in Frage, dass Russland seine Präsenz an der ukrainischen Grenze tatsächlich in einer Weise verstärkt hat, die unsere derzeitige Situation bedrohlicher macht als noch vor einem Jahr.

Ich sage nicht, dass die Bedrohung durch die Invasion der sehr realen russischen Truppen, die sich an unseren Grenzen sammeln, unbedeutend ist. Aber ich bezweifle, dass das Engagement der USA wirklich auf eine Deeskalation des Konflikts zum Wohle der ukrainischen Bevölkerung abzielt.

Da ich hier vor Ort bin, kann ich mich leider nicht auf besondere Fachkenntnisse stützen. Als ich Anfang 2014 alles sah, was im Land geschah, habe ich mich geweigert zu glauben, dass die Ukraine im Begriff war, in einen Krieg zu ziehen, bis zu dem Moment, als es passierte. Rückblickend scheint er unvermeidlich gewesen zu sein. Jetzt weiß keiner von uns wirklich, ob der Krieg stattfinden wird, und wenn ja, wann er eskalieren wird.

Einige Menschen sind bereits aus dem Land geflohen. Die meisten Menschen können sich nicht einmal eine kurze Reise ins Ausland leisten, also müssen sie Ruhe bewahren und weitermachen. Abgesehen von Korruption und Krieg mag der Grund, warum die meisten Menschen in der Ukraine so verzweifelt arm sind, auch damit zusammenhängen, dass die Ukraine 2015 den Kommunismus verboten hat und derzeit das einzige Land in Europa ist, in dem das Parlament ausschließlich aus rechtsgerichteten Parteien unterschiedlicher Couleur besteht.

Wenn sich Ereignisse wie diese fast 6000 Meilen von einem entfernt abspielen, ist es nur natürlich, dass ein Antiautoritarist aus dem Ausland versucht, sicherzustellen, dass er nicht für die Bösen Partei ergreift. Nicht jeder, der für sich selbst eintritt, ist ein Zapatist, ein Kurde oder ein Katalane. Ein breites Spektrum verschiedener Gruppen auf der ganzen Welt widersetzt sich imperialistischer Aggression. Auf diesem Spektrum stehen viele derjenigen, die behaupten, die Ukraine zu schützen, Gruppen wie der Hisbollah und der Hamas sehr viel näher. Sind viele von ihnen fremdenfeindlich, konservativ, sexistisch, homophob, antisemitisch, rassistisch, pro-kapitalistisch oder sogar offen faschistisch? Ja. Aber kämpfen sie einen ungleichen Kampf gegen einen extrem mächtigen und gewalttätigen Nachbarstaat, in dem sie die einzige Hoffnung auf irgendeinen sinnvollen Widerstand zu sein scheinen? Ebenfalls ja.

Und das sind nicht die schwierigsten Fragen.

Wenn ein autokratisches Imperium versucht, einen anderen Staat zu zerstören, der zum Teil von Faschisten verteidigt wird, lehnen wir uns dann zurück und freuen uns, dass es nun ein paar Faschisten weniger auf der Welt gibt? Was ist, wenn unter den Toten auch Tausende von unschuldigen Menschen sind, die versuchen, sich zu verteidigen, oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sind? Greifen wir ein, weil wir wissen, dass diese Spaltungen zwischen den Menschen nur denen zugute kommen, die bereits mächtig sind, niemals aber den Menschen, die gespalten werden?

Dies wirft eine weitere Frage auf: Was bedeutet “Einschreiten”? Gibt es eine Möglichkeit, hier “einzugreifen”, die sowohl substanziell als auch ohne negative Folgen ist? Keine der beiden Strategien, die die Vereinigten Staaten bisher angewandt haben, hat viel Erfolg gezeigt. Russland zu verärgern, macht die Dinge für alle nur noch schlimmer, während viele Menschen hier der Meinung sind, dass die Alternative - “tiefe Besorgnis” zu äußern, ohne sich Putin in den Weg zu stellen - dazu geführt hat, dass der Krieg im Jahr 2014 überhaupt erst begonnen hat. Deshalb bezweifle ich, dass eine Lösung für das Problem des imperialen Appetits, die nicht die gleichzeitige Abschaffung beider Imperien beinhaltet, mehr als nur ein Pflaster für ein Problem dieser Größenordnung sein kann. Die Wahrheit ist, dass die Ukraine nicht das erste Opfer des Machthungers ist, und sie wird auch nicht das letzte sein. Solange wir diese Monster am Leben erhalten, wird es keine Rolle spielen, ob sie Freunde oder Feinde sind, gezähmt oder tollwütig, angekettet oder frei. Sie werden immer hungrig sein.

Ich hoffe jedoch, dass die Menschen in den USA und im Rest der Welt noch viel mehr tun können. Ich hoffe, dass wir uns alle organisieren und Gemeinschaften bilden können, die über die oberflächlichen Trennungen hinausgehen, die uns von den schädlichen Ideologien des Kapitalismus, des Konservatismus und des Individualismus auferlegt werden, und dass wir uns daran erinnern, dass wir nur dann wirklich schwach und hilflos sind, wenn wir voneinander getrennt, ausgegrenzt, unachtsam sind oder uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Mit Bildung und Solidarität können wir versuchen, eine Welt zu schaffen, in der ein sinnloser Konflikt wie dieser noch weniger Sinn machen würde. Bis dahin können wir unser Bestes tun, um diejenigen zu unterstützen, die in der ganzen Welt Opfer dieser grausamen Kriege werden.

Was bedeutet das konkret, jetzt, hier in der Ukraine? Und bedeutet die Tatsache, dass viele Menschen, die für die Ukraine kämpfen, tatsächlich Faschisten sind, dass all die Menschen, die sich hinter ihrem Rücken verstecken - mich eingeschlossen -, auch für ihre Politik verantwortlich sind? Hier kommen wir zu den schwierigeren Fragen.

Aber niemand geht hier auf diese Fragen ein. Die Menschen in der Ukraine sind alle damit beschäftigt, Erste-Hilfe-Kurse und Kurse für den Umgang mit Waffen zu besuchen oder zu lernen, wo die städtischen Notunterkünfte sind, oder sie kämpfen einfach nur darum, über die Runden zu kommen. Hier herrscht keine totale Panik, nur dumpfe Müdigkeit. Die Bedrohung durch den großen Krieg ist nach wie vor sehr real; sollte es dazu kommen, ist es unwahrscheinlich, dass er zu etwas anderem führt als zu einer noch schwächeren, schlimmeren und kleineren Ukraine als der, die wir bereits haben. Und ich kann wirklich nicht einmal die aktuelle Version empfehlen.

Abgesehen davon muss ich auch zugeben, dass ich mein Leben nicht riskieren werde, um für dieses Land gegen die russische Armee zu kämpfen. Ich werde wahrscheinlich mein Bestes tun, um zu evakuieren, wenn Kiew noch unbewohnbarer wird als es ohnehin schon ist. Dies ist zugegebenermaßen die Absicht eines Menschen mit einigen Privilegien. Die meisten Menschen hier können absolut nirgendwo hin.

KRIEG UND ANARCHIST*INNEN: ANTIAUTORITÄRE PERSPEKTIVEN IN DER UKRAINE

Als Nächstes werden wir einen Artikel von Anarchist*innen in der Ukraine teilen, der ursprünglich am 15. Februar veröffentlicht wurde. Er gibt Aufschluss darüber, wie einige Teilnehmende der sozialen Bewegungen in der Ukraine die schwierigen Ereignisse sehen, die sich dort in den letzten neun Jahren abgespielt haben. Wir glauben, dass es für Menschen überall wichtig ist, sich mit den Ereignissen, die sie im Folgenden beschreiben, und den Fragen, die diese Entwicklungen aufwerfen, auseinanderzusetzen.

Dieser Text wurde von mehreren aktiven antiautoritären Aktivist*innen aus der Ukraine gemeinsam verfasst. Wir repräsentieren nicht eine Organisation, aber wir haben uns zusammengetan, um diesen Text zu schreiben und uns auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Außer uns wurde der Text von mehr als zehn Personen redigiert, darunter Teilnehmende an den im Text beschriebenen Ereignissen, Journalist*innen, die die Richtigkeit unserer Behauptungen überprüften, und Anarchist*innn aus Russland, Belarus und Europa. Wir haben viele Korrekturen und Klarstellungen erhalten, um einen möglichst objektiven Text zu verfassen.

Wenn ein Krieg ausbricht, wissen wir nicht, ob die antiautoritäre Bewegung überleben wird, aber wir werden es versuchen. In der Zwischenzeit ist dieser Text ein Versuch, die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, online zu stellen.

Im Moment diskutiert die Welt aktiv über einen möglichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Wir müssen klarstellen, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine bereits seit 2014 andauert. Aber das Wichtigste zuerst.

DIE MAIDAN-PROTESTE IN KIEW

Im Jahr 2013 kam es in der Ukraine zu Massenprotesten, die dadurch ausgelöst wurden, dass Berkut (Spezialeinheiten der Polizei) auf protestierende Student*innen einprügelten, die mit der Weigerung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, unzufrieden waren. Diese Schlägerei war für viele Teile der Gesellschaft ein Aufruf zum Handeln. Jedem wurde klar, dass Janukowitsch die Grenze überschritten hatte. Die Proteste führten schließlich dazu, dass der Präsident flüchtete.

In der Ukraine werden diese Ereignisse als “Revolution der Würde” bezeichnet. Die russische Regierung stellt sie als Nazi-Putsch, als Projekt des US-Außenministeriums und so weiter dar. Die Demonstrant*innen selbst waren ein bunter Haufen: rechtsextreme Aktivist*innen mit ihren Symbolen, liberale Politiker*inn, die über europäische Werte und die europäische Integration sprachen, einfache Ukrainer*innen, die gegen die Regierung auf die Straße gingen, und ein paar Linke. Unter den Demonstrant*innen herrschten antioligarchische Gefühle, während Oligarchen, die Janukowitsch nicht mochten, den Protest finanzierten, weil er zusammen mit seinem inneren Kreis während seiner Amtszeit versucht hatte, das Großkapital zu monopolisieren. Für andere Oligarchen stellte der Protest also eine Chance dar, ihre Unternehmen zu retten. Auch viele Vertreter mittlerer und kleiner Unternehmen nahmen an den Protesten teil, weil Janukowitschs Leute sie nicht frei arbeiten ließen und Geld von ihnen verlangten. Die einfache Bevölkerung war unzufrieden mit dem hohen Maß an Korruption und der Willkür der Polizei. Die Nationalisten, die Janukowitsch mit der Begründung ablehnten, er sei ein prorussischer Politiker, gewannen wieder deutlich an Einfluss. Belarussische und russische Auswanderer*innen schlossen sich den Protesten an, da sie Janukowitsch als Freund der belarussischen und russischen Diktatoren Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin ansahen.

Wenn ihr Videos von der Maidan-Kundgebung gesehen habt, ist euch vielleicht aufgefallen, dass das Ausmaß der Gewalt hoch war; die Demonstrierenden hatten keinen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten, also mussten sie bis zum bitteren Ende kämpfen. Die Berkut umwickelte die Blendgranaten mit Schraubenmuttern, die nach der Explosion Splitterwunden hinterließen und die Menschen in die Augen trafen; deshalb gab es viele Verletzte. In der Endphase des Konflikts setzten die Sicherheitskräfte militärische Waffen ein und töteten 106 Demonstrierende.

Als Reaktion darauf stellten die Demonstrierenden selbstgebaute Granaten und Sprengstoffe her und brachten Schusswaffen auf den Maidan. Die Herstellung von Molotow-Cocktails ähnelte kleinen Spaltungen.

Bei den Maidan-Protesten 2014 setzten die Behörden Söldner (Tituschkas) ein, gaben ihnen Waffen, koordinierten sie und versuchten, sie als organisierte loyale Kräfte einzusetzen. Es kam zu Kämpfen mit Stöcken, Hämmern und Messern.

Entgegen der Meinung, der Maidan sei eine “Manipulation durch die EU und die NATO”, hatten die Befürworter*innen der europäischen Integration zu einem friedlichen Protest aufgerufen und die militanten Demonstrierenden als Handlanger verspottet. Die EU und die Vereinigten Staaten kritisierten die Beschlagnahmung von Regierungsgebäuden. Natürlich beteiligten sich “pro-westliche” Kräfte und Organisationen an dem Protest, aber sie kontrollierten nicht den gesamten Protest. Verschiedene politische Kräfte, darunter die extreme Rechte, mischten sich aktiv in die Bewegung ein und versuchten, ihre Agenda zu diktieren. Sie fanden sich schnell zurecht und wurden zu einer organisierenden Kraft, da sie die ersten Kampfgruppen aufstellten und alle einluden, sich ihnen anzuschließen, sie ausbildeten und anleiteten.

Keine der Kräfte war jedoch absolut dominant. Der Haupttrend war, dass es sich um eine spontane Protestmobilisierung handelte, die sich gegen das korrupte und unpopuläre Janukowitsch-Regime richtete. Vielleicht kann man den Maidan als eine der vielen “gestohlenen Revolutionen” bezeichnen. Die Opfer und Anstrengungen Zehntausender einfacher Menschen wurden von einer Handvoll Politiker zunichte gemacht, die sich ihren Weg zur Macht und zur Kontrolle über die Wirtschaft bahnten.

DIE ROLLE DER ANARCHIST*INNEN BEI DEN PROTESTEN VON 2014

Obwohl die Anarchist*innen in der Ukraine auf eine lange Geschichte zurückblicken können, wurden während der Herrschaft Stalins alle, die in irgendeiner Weise mit den Anarchist*innen in Verbindung standen, unterdrückt, und die Bewegung starb aus, was zur Folge hatte, dass die Weitergabe revolutionärer Erfahrungen eingestellt wurde. In den 1980er Jahren begann sich die Bewegung dank der Bemühungen von Historiker*innen zu erholen, und in den 2000er Jahren erhielt sie durch die Entwicklung von Subkulturen und Antifaschismus einen großen Auftrieb. Im Jahr 2014 war sie jedoch noch nicht bereit für ernsthafte historische Herausforderungen.

Vor dem Beginn der Proteste waren die Anarchist*innen Einzelaktivist*innen oder in kleinen Gruppen verstreut. Nur wenige argumentierten, dass die Bewegung organisiert und revolutionär sein sollte. Zu den bekannten Organisationen, die sich auf solche Ereignisse vorbereiteten, gehörte die Revolutionäre Konföderation der Anarcho-Syndikalisten von Makhno (RCAS von Makhno), die sich jedoch zu Beginn der Unruhen selbst auflöste, da die Teilnehmenden keine Strategie für die neue Situation entwickeln konnten.

Die Ereignisse auf dem Maidan waren wie eine Situation, in der Spezialeinheiten in dein Haus einbrechen und du entscheidende Maßnahmen ergreifen musst, aber dein Arsenal besteht nur aus Punk-Texten, Veganismus, 100 Jahre alten Büchern und bestenfalls aus der Erfahrung der Teilnahme am Antifaschismus auf der Straße und an lokalen sozialen Konflikten. Folglich herrschte große Verwirrung, als die Leute versuchten zu verstehen, was vor sich ging.

Zu dieser Zeit war es nicht möglich, sich ein einheitliches Bild von der Situation zu machen. Die Anwesenheit der Rechtsextremen auf den Straßen hielt viele Anarchist*innen davon ab, die Proteste zu unterstützen, da sie nicht neben den Nazis auf der gleichen Seite der Barrikaden stehen wollten. Dies brachte eine Menge Kontroversen in die Bewegung; einige Leute beschuldigten diejenigen, die sich entschlossen hatten, an den Protesten teilzunehmen, des Faschismus.

Die Anarchist*innen, die an den Protesten teilnahmen, waren unzufrieden mit der Brutalität der Polizei und mit Janukowitsch selbst und seiner pro-russischen Haltung. Sie konnten jedoch keinen nennenswerten Einfluss auf die Proteste ausüben, da sie im Wesentlichen zu den Außenseiter*innen zählten.

Schließlich beteiligten sich die Anarchist*innen einzeln und in kleinen Gruppen an der Maidan-Revolution, hauptsächlich in freiwilligen/nichtmilitanten Initiativen. Nach einiger Zeit beschlossen sie, zusammenzuarbeiten und ihre eigene ›Hundertschaft‹ (eine Kampfgruppe von 60-100 Personen) zu bilden. Doch bei der Registrierung der Truppe (ein obligatorisches Verfahren auf dem Maidan) wurden die zahlenmäßig unterlegenen Anarchist*innen von den rechtsextremen Teilnehmern mit Waffen auseinandergetrieben. Die Anarchist*innen blieben, versuchten aber nicht mehr, große organisierte Gruppen zu bilden.

Unter den auf dem Maidan Getöteten befand sich der Anarchist Sergei Kemsky, der ironischerweise post mortem zum ›Helden der Ukraine‹ erklärt wurde. Er wurde in der heißen Phase der Konfrontation mit den Sicherheitskräften von einem Scharfschützen erschossen. Während der Proteste richtete Sergej einen Appell an die Demonstrant*innen mit dem Titel »Hörst du es, Maidan?«, in dem er mögliche Wege zur Entwicklung der Revolution aufzeigte und dabei die Aspekte der direkten Demokratie und des sozialen Wandels betonte. Einen Link zu einer englischen Übersetzung des Textes finden Sie auf unserer Website crimethinc.com/podcasts.

DER BEGINN DES KRIEGES: DIE ANNEKTIERUNG DER KRIM

Der bewaffnete Konflikt mit Russland begann vor acht Jahren, in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014, als das Parlamentsgebäude und der Ministerrat der Krim von unbekannten bewaffneten Männern besetzt wurden. Sie benutzten russische Waffen, Uniformen und Ausrüstung, trugen aber nicht die Symbole der russischen Armee. Putin erkannte die Tatsache der Beteiligung des russischen Militärs an dieser Operation nicht an, obwohl er sie später in dem dokumentarischen Propagandafilm »Krim: Der Weg in die Heimat«, zugab.

Dazu muss man wissen, dass sich die ukrainische Armee zu Zeiten Janukowitschs in einem sehr schlechten Zustand befand. Die provisorische Regierung der Ukraine wusste, dass auf der Krim eine reguläre russische Armee mit 220 000 Soldat*innen operierte, und wagte es nicht, ihr entgegenzutreten. Nach der Besetzung waren viele Bewohner*innen der Krim mit Repressionen konfrontiert, die bis zum heutigen Tag andauern. Auch unsere Genoss*innen gehören zu den Unterdrückten. Wir können kurz auf einige der bekanntesten Fälle eingehen. Der Anarchist Alexander Koltschenko wurde zusammen mit dem pro-demokratischen Aktivisten Oleg Sentsov verhaftet und am 16. Mai 2014 nach Russland überstellt; fünf Jahre später wurden sie im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Der Anarchist Alexei Shestakovich wurde gefoltert, mit einer Plastiktüte auf dem Kopf gewürgt, geschlagen und mit Repressalien bedroht; ihm gelang die Flucht. Der Anarchist Evgeny Karakashev wurde 2018 wegen eines Re-Posts auf Vkontakte (einem sozialen Netzwerk) verhaftet; er befindet sich weiterhin in Haft.

DESINFORMATION

In russischsprachigen Städten in der Nähe der russischen Grenze fanden prorussische Kundgebungen statt. Die Teilnehmenden fürchteten die NATO, radikale Nationalist*innen und Repressionen gegen die russischsprachige Bevölkerung. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab es in vielen Haushalten in der Ukraine, in Russland und in Belarus familiäre Bindungen, doch die Ereignisse auf dem Maidan führten zu einem schweren Bruch in den persönlichen Beziehungen. Diejenigen, die sich außerhalb Kiews aufhielten und das russische Fernsehen verfolgten, waren davon überzeugt, dass Kiew von einer Nazi-Junta eingenommen worden war und dass es dort Säuberungen unter der russischsprachigen Bevölkerung gab.

Russland startete eine Propagandakampagne mit den folgenden Botschaften: ›Peiniger‹, d.h. Nazis, kommen von Kiew nach Donezk, sie wollen die russischsprachige Bevölkerung vernichten (obwohl Kiew auch eine überwiegend russischsprachige Stadt ist). In ihren Desinformationserklärungen verwendeten die Propagandist*innen Fotos der extremen Rechten und verbreiteten alle Arten von Fake News. Während der Feindseligkeiten tauchte eine der berüchtigtsten Falschmeldungen auf: die angebliche Kreuzigung eines dreijährigen Jungen, der an einen Panzer gebunden und über die Straße geschleift wurde. In Russland wurde diese Geschichte auf staatlichen Kanälen ausgestrahlt und verbreitete sich im Internet.

Unserer Meinung nach spielte 2014 die Desinformation eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des bewaffneten Konflikts: Einige Einwohner*inn von Donezk und Luhansk hatten Angst, dass sie getötet werden könnten, und griffen deshalb zu den Waffen und riefen nach Putins Truppen.

BEWAFFNETER KONFLIKT IM OSTEN DER UKRAINE

»Der Auslöser des Krieges« wurde nach seinen eigenen Worten von Igor Girkin, einem Oberst des FSB (Staatssicherheitsdienst, Nachfolger des KGB) der Russischen Föderation, betätigt. Girkin, ein Anhänger des russischen Imperialismus, beschloss, die pro-russischen Proteste zu radikalisieren. Er überquerte mit einer bewaffneten Gruppe von Russen die Grenze und besetzte (am 12. April 2014) das Gebäude des Innenministeriums in Slawjansk, um Waffen in Besitz zu nehmen. Pro-russische Sicherheitskräfte begannen, sich Girkin anzuschließen. Als Informationen über Girkins bewaffnete Gruppen auftauchten, kündigte die Ukraine eine Anti-Terror-Operation an.

Ein Teil der ukrainischen Gesellschaft, der entschlossen war, die nationale Souveränität zu schützen, erkannte, dass die Armee nur über geringe Kapazitäten verfügte, und organisierte eine große Freiwilligenbewegung. Diejenigen, die in militärischen Angelegenheiten einigermaßen kompetent waren, wurden Ausbilder oder bildeten Freiwilligenbataillone. Einige Menschen schlossen sich der regulären Armee und den Freiwilligenbataillonen als humanitäre Freiwillige an. Sie sammelten Geld für Waffen, Lebensmittel, Munition, Treibstoff, Transportmittel, die Anmietung von Zivilfahrzeugen und ähnliches. Oft waren die Teilnehmenden der Freiwilligenbataillone besser bewaffnet und ausgerüstet als die Soldaten der staatlichen Armee. Diese Bataillone zeigten ein hohes Maß an Solidarität und Selbstorganisation und ersetzten die staatlichen Aufgaben der Territorialverteidigung, so dass die (damals schlecht ausgerüstete) Armee in der Lage war, dem Feind erfolgreich Widerstand zu leisten.

Die von den prorussischen Kräften kontrollierten Gebiete begannen rasch zu schrumpfen. Dann griff die reguläre russische Armee ein.

Wir können drei wichtige chronologische Punkte hervorheben:

Das ukrainische Militär erkannte, dass Waffen, Freiwillige und Militärspezialisten aus Russland kamen. Daher begannen sie am 12. Juli 2014 eine Operation an der ukrainisch-russischen Grenze. Während des Militärmarsches wurde das ukrainische Militär jedoch von russischer Artillerie angegriffen und die Operation scheiterte. Die Streitkräfte erlitten schwere Verluste. Das ukrainische Militär versuchte, Donezk zu besetzen. Bei ihrem Vormarsch wurden sie in der Nähe von Ilowaisk von russischen regulären Truppen umzingelt. Bekannte von uns, die einem der Freiwilligenbataillone angehörten, wurden ebenfalls gefangen genommen. Sie erlebten das russische Militär aus erster Hand. Nach drei Monaten gelang es ihnen, im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zurückzukehren. Die ukrainische Armee kontrollierte die Stadt Debaltseve, die über einen großen Eisenbahnknotenpunkt verfügte. Dadurch wurde die direkte Straße zwischen Donezk und Luhansk unterbrochen. Am Vorabend der Verhandlungen zwischen Poroschenka (dem damaligen Präsidenten der Ukraine) und Putin, die einen langfristigen Waffenstillstand einleiten sollten, wurden ukrainische Stellungen von Einheiten angegriffen, die von russischen Truppen unterstützt wurden. Die ukrainische Armee wurde erneut eingekesselt und erlitt schwere Verluste.

Vorläufig (ab Februar 2022) haben sich die Parteien auf einen Waffenstillstand und eine bedingte ›Ruheordnung‹ geeinigt, die trotz ständiger Verstöße eingehalten wird. Jeden Monat kommen mehrere Menschen ums Leben.

Russland bestreitet die Anwesenheit regulärer russischer Truppen und die Lieferung von Waffen in Gebiete, die von den ukrainischen Behörden nicht kontrolliert werden. Die gefangen genommenen russischen Soldat*innen behaupten, sie seien für eine Übung in Alarmbereitschaft versetzt worden und hätten erst bei ihrer Ankunft am Zielort gemerkt, dass sie sich mitten im Krieg in der Ukraine befanden. Bevor sie die Grenze überquerten, entfernten sie die Symbole der russischen Armee, so wie es ihre Kolleg*innen auf der Krim taten. In Russland haben Journalist*innen Friedhöfe von gefallenen Soldat*innen gefunden, aber alle Informationen über ihren Tod sind unbekannt: Die Grabinschriften auf den Grabsteinen geben als Todesdatum nur das Jahr 2014 an.

UNTERSTÜTZER*INNEN DER NICHT ANERKANNTEN REPUBLIKEN

Auch die ideologische Basis der Maidan-Gegner*inn war vielfältig. Die wichtigsten verbindenden Ideen waren die Unzufriedenheit mit der Gewalt gegen die Polizei und die Ablehnung der Ausschreitungen in Kiew. Menschen, die mit russischen Kulturerzählungen, Filmen und Musik aufgewachsen sind, befürchteten die Zerstörung der russischen Sprache. Anhänger*inn der UdSSR und Bewundernde ihres Sieges im Zweiten Weltkrieg glaubten, dass die Ukraine mit Russland verbündet sein sollte, und waren unglücklich über den Aufstieg radikaler Nationalisten. Die Anhänger*inn des Russischen Reiches sahen in den Maidan-Protesten eine Bedrohung für das Gebiet des Russischen Reiches. Die Vorstellungen dieser Verbündeten lassen sich anhand dieses Fotos erklären, das die Flaggen der UdSSR, des Russischen Reichs und das St.-Georgs-Band als Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg zeigt. Wir könnten sie als autoritäre Konservative darstellen, als Anhänger*innen der alten Ordnung.

Die pro-russische Seite bestand aus Polizist*innen, Unternehmer*innn, Politiker*innen und Militärs, die mit Russland sympathisierten, gewöhnlichen Bürger*innen, die durch Fake News verängstigt waren, verschiedenen ultrarechten Einzelpersonen, darunter russische Patriot*innen und verschiedene Arten von Monarchisten, sowie pro-russischen Imperialisten, die Task-Force-Gruppe ›Rusich‹, die PMC [Private Military Company]-Gruppe ›Wagner‹, darunter der berüchtigte Neonazi Alexei Milchakov, der kürzlich verstorbene Egor Prosvirnin, der Gründer des chauvinistischen russisch-nationalistischen Medienprojekts ›Sputnik und Pogrom‹, und viele andere. Es gab auch autoritäre Linke, die die UdSSR und ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg feierten.

DER AUFSTIEG DER EXTREMEN RECHTEN IN DER UKRAINE

Wie wir bereits beschrieben haben, gelang es den Rechten, während des Maidan Sympathien zu gewinnen, indem sie Kampfeinheiten organisierten und bereit waren, der Berkut physisch entgegenzutreten. Die Präsenz militärischer Waffen ermöglichte es ihnen, ihre Unabhängigkeit zu wahren und andere zu zwingen, mit ihnen zu rechnen. Obwohl sie offen faschistische Symbole wie Hakenkreuze, Wolfshaken, keltische Kreuze und SS-Logos verwendeten, war es schwierig, sie zu diskreditieren, da die Notwendigkeit, die Kräfte der Janukowitsch-Regierung zu bekämpfen, viele Ukrainer*innen zur Zusammenarbeit mit ihnen aufrief.

Nach dem Maidan unterdrückte der rechte Flügel aktiv die Kundgebungen der prorussischen Kräfte. Zu Beginn der Militäroperationen begannen sie, Freiwilligenbataillone zu bilden. Eines der bekanntesten ist das Bataillon “Asow”. Zu Beginn bestand es aus 70 Kämpfenden; heute ist es ein Regiment mit 800 Soldat*innen, das über eigene gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, eine Panzerkompanie und ein eigenes Projekt nach NATO-Standards, die Unteroffiziersschule, verfügt. Das Asow-Bataillon ist eine der kampfstärksten Einheiten der ukrainischen Armee. Es gab auch andere faschistische militärische Formationen wie die ukrainische Freiwilligeneinheit “Rechter Sektor” und die Organisation der ukrainischen Nationalisten, die jedoch weniger bekannt sind. Infolgedessen genoss die ukrainische Rechte in den russischen Medien einen schlechten Ruf. Viele in der Ukraine betrachteten jedoch das, was in Russland verhasst war, als ein Symbol des Kampfes in der Ukraine. So wurde beispielsweise der Name des Nationalisten Stepan Bandera, der in Russland vor allem als Nazi-Kollaborateur bekannt ist, von den Demonstranten aktiv als eine Form des Spottes verwendet. Einige nannten sich Judeo-Banderaner, um Anhänger*innen jüdisch-freimaurerischer Verschwörungstheorien zu trollen.

Im Laufe der Zeit trugen diese Hetzjagden zu einem Anstieg der rechtsextremen Aktivitäten bei. Rechtsextreme trugen offen Nazi-Symbole; gewöhnliche Anhänger*innen des Maidan behaupteten, sie seien selbst Banderaner*innen, die russische Babys essen, und erstellten entsprechende Memes. Die Rechtsextremen fanden ihren Weg in den Mainstream: Sie wurden zu Fernsehsendungen und anderen Medienplattformen eingeladen, in denen sie als Patrioten und Nationalisten dargestellt wurden. Liberale Anhänger*innen des Maidan schlugen sich auf ihre Seite und glaubten, die Nazis seien ein von den russischen Medien erfundener Schwindel. In den Jahren 2014 bis 2016 wurde jeder, der bereit war zu kämpfen, umarmt, egal ob es sich um einen Nazi, eine*n Anarchist*en einen Anführer eines organisierten Verbrechersyndikats oder einen Politiker*in handelte, der seine Versprechen nicht einhielt.

Der Aufstieg der extremen Rechten ist darauf zurückzuführen, dass sie in kritischen Situationen besser organisiert waren und anderen Rebellierenden wirksame Kampfmethoden vorschlagen konnten. Etwas Ähnliches leisteten die Anarchist*innen in Belarus, wo es ihnen ebenfalls gelang, die Sympathie der Öffentlichkeit zu gewinnen, wenn auch nicht in so großem Umfang wie die Rechtsextremen in der Ukraine.

2017, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war und der Bedarf an radikalen Kämpfenden zurückging, kooptierten der SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine) und die Regierung die rechte Bewegung und inhaftierten oder neutralisierten jede_n, der_die eine “systemfeindliche” oder unabhängige Perspektive für die Entwicklung der rechten Bewegung hatte.

Heute ist sie immer noch eine große Bewegung, aber ihre Popularität ist vergleichsweise gering, und ihre Führer sind mit dem Sicherheitsdienst, der Polizei und Politikern verbunden; sie stellen keine wirklich unabhängige politische Kraft dar. Im demokratischen Lager wird das Problem der Rechtsextremen immer häufiger diskutiert. Dort entwickelt man ein Verständnis für die Symbole und Organisationen, mit denen man es zu tun hat, anstatt die Bedenken stillschweigend zu verdrängen.

AKTIVITÄTEN VON ANARCHIST*INNEN UND ANTIFASCHIST*INNEN WÄHREND DES KRIEGES

Mit dem Ausbruch der Militäroperationen entstand eine Spaltung zwischen denjenigen, die pro-ukrainisch sind, und denjenigen, die die sogenannte DNR/LNR (›Donezker Volksrepublik‹ und ›Luhansker Volksrepublik‹) unterstützen.

In den ersten Monaten des Krieges herrschte in der Punk-Szene eine weit verbreitete »Sag Nein zum Krieg‹ -Stimmung, die jedoch nicht lange anhielt. Analysieren wir das pro-ukrainische und das pro-russische Seite.

PRO-UKRAINE

In Ermangelung einer massiven Organisation zogen die ersten anarchistischen und antifaschistischen Freiwilligen einzeln als Einzelkämpfende, Militärsanitäter*innen und Freiwillige in den Krieg. Sie versuchten, eine eigene Truppe zu bilden, was jedoch aufgrund mangelnder Kenntnisse und Ressourcen nicht gelingen wollte. Einige schlossen sich sogar dem Asow-Bataillon und der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) an. Die Gründe dafür waren banal: Sie schlossen sich den Truppen an, die am leichtesten zugänglich waren. Infolgedessen konvertierten einige Menschen zu einer rechtsgerichteten Politik.

[Anmerkung der Redaktion: Obwohl wir die Einzelheiten dieser Ereignisse nicht kennen – und es schwierig ist, sie zu bestätigen, solange sich die Autor*innen mitten im Krieg befinden –, war offensichtlich jede*r vermeintliche Antifaschist*in oder ›Anarchist*in‹, der sich einer faschistisch organisierten Miliz anschloss, in Wirklichkeit nie ein*e Anarchist*in. Wir behalten diesen Absatz so bei, wie er angekommen ist, weil wir glauben, dass es wichtig ist, kritisch zu sein und die Stimmen der Menschen inmitten der Ereignisse in den Mittelpunkt zu stellen].

Menschen, die nicht an den Kämpfen teilnahmen, sammelten Geld für die Rehabilitation von im Osten verletzten Menschen und für den Bau eines Bunkers in einem Kindergarten in der Nähe der Frontlinie. Es gab auch ein besetztes Haus namens ›Autonomie› in Charkiw, ein offenes anarchistisches soziales und kulturelles Zentrum, das sich damals auf die Unterstützung der Geflüchteten konzentrierte. Sie stellten Wohnungen und einen permanenten, wirklich freien Markt zur Verfügung, berieten die Neuankömmlinge und verwiesen sie auf Ressourcen und führten Bildungsaktivitäten durch. Darüber hinaus wurde das Zentrum zu einem Ort für theoretische Diskussionen. Leider wurde das Projekt im Jahr 2018 aufgelöst.

All diese Aktionen waren Einzelinitiativen bestimmter Personen und Gruppen. Sie geschahen nicht im Rahmen einer einzigen Strategie.

Eines der bedeutendsten Phänomene in dieser Zeit war eine ehemals große radikal-nationalistische Organisation, ›Autonomnyi Opir‹ (Autonomer Widerstand). Sie begann 2012, sich nach links zu orientieren; 2014 war sie so weit nach links gerückt, dass sich einzelne Mitglieder sogar als ›Anarchist*innen‹ bezeichneten. Sie bezeichneten ihren Nationalismus als Kampf für ›Freiheit‹ und als Gegengewicht zum russischen Nationalismus, wobei sie die zapatistische Bewegung und die Kurd*innen als Vorbilder anführten. Im Vergleich zu den anderen Projekten in der ukrainischen Gesellschaft galten sie als die engsten Verbündeten, weshalb einige Anarchist*innen mit ihnen zusammenarbeiteten, während andere diese Zusammenarbeit und die Organisation selbst kritisierten. Mitglieder der AO beteiligten sich auch aktiv an den Freiwilligenbataillonen und versuchten, die Idee des ›Antiimperialismus‹ unter den Militärs zu entwickeln. Sie setzten sich auch für das Recht der Frauen ein, am Krieg teilzunehmen; weibliche Mitglieder der AO nahmen an den Kampfhandlungen teil. Die AO unterstützte Ausbildungszentren bei der Ausbildung von Kämpfenden und Ärzt*innen, meldete sich freiwillig zur Armee und organisierte das Sozialzentrum ›Zitadelle‹ in Lemberg, wo Flüchtlinge untergebracht wurden.

PRO-RUSSLAND

Der moderne russische Imperialismus beruht auf der Auffassung, dass Russland der Nachfolger der UdSSR ist - nicht in Bezug auf sein politisches System, sondern aus territorialen Gründen. Das Putin-Regime betrachtet den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht als ideologischen Sieg über den Nationalsozialismus, sondern als einen Sieg über Europa, der die Stärke Russlands zeigt. In Russland und den von ihm kontrollierten Ländern hat die Bevölkerung weniger Zugang zu Informationen, so dass sich Putins Propagandamaschine nicht die Mühe macht, ein komplexes politisches Konzept zu erstellen. Das Narrativ lautet im Wesentlichen wie folgt: Die USA und Europa hatten Angst vor der starken UdSSR, Russland ist der Nachfolger der UdSSR und das gesamte Gebiet der ehemaligen UdSSR ist russisch, russische Panzer sind in Berlin eingefahren, was bedeutet: »Wir können es wieder tun« und wir werden der NATO zeigen, wer hier der Stärkste ist, der Grund, warum Europa »verrottet«, ist, dass all die Homosexuellen und Emigranten dort außer Kontrolle sind.

Die ideologische Grundlage für die Beibehaltung einer pro-russischen Position in der Linken war das Erbe der UdSSR und ihr Sieg im Zweiten Weltkrieg. Da Russland behauptet, die Regierung in Kiew sei von Nazis und der Junta besetzt, bezeichneten sich die Gegner*innen des Maidan als Kämpfende gegen den Faschismus und die Kiewer Junta. Dieses Branding weckte Sympathien bei der autoritären Linken – zum Beispiel in der Ukraine, einschließlich der Organisation ›Borotba‹. Während der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2014 nahmen sie zunächst eine loyale und später eine pro-russische Position ein. In Odessa wurden am 2. Mai 2014 mehrere ihrer Aktivist*innen bei Straßenunruhen getötet. Einige dieser Gruppe waren auch an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Luhansk beteiligt, und einige von ihnen starben dort.

›Borotba‹ beschrieb ihre Motivation als den Wunsch, gegen den Faschismus zu kämpfen. Sie forderten die europäische Linke auf, sich mit der ›Donezker Volksrepublik‹ und der ›Luhansker Volksrepublik‹ zu solidarisieren. Nachdem die E-Mail von Wladislaw Surkow (Putins politischem Strategen) gehackt wurde, stellte sich heraus, dass die Mitglieder von Borotba von Surkows Leuten finanziert und beaufsichtigt worden waren.

Die autoritären Kommunisten Russlands haben die abtrünnigen Republiken aus ähnlichen Gründen umarmt.

Die Anwesenheit rechtsextremer Anhänger*innen auf dem Maidan motivierte auch unpolitische Antifaschist*innen, die DNR und die LNR zu unterstützen. Wiederum nahmen einige von ihnen an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Luhansk teil, und einige von ihnen starben dort auch.

Unter den ukrainischen Antifaschist*innen gab es ›unpolitische‹ Antifaschist*innen, subkulturell gebundene Menschen, die eine negative Einstellung zum Faschismus hatten, »weil unsere Großväter dagegen gekämpft haben«. Ihr Verständnis von Faschismus war abstrakt: Sie selbst waren oft politisch inkohärent, sexistisch, homophob, Patrioten Russlands und dergleichen.

Die Idee, die so genannten Republiken zu unterstützen, fand in der europäischen Linken breiten Rückhalt. Zu den bekanntesten Unterstützer*innn gehörten die italienische Rockband ›Banda Bassotti‹ und die deutsche Partei Die Linke. Neben der Spendensammlung unternahm Banda Bassotti eine Tournee nach ›Novorossia‹. Als Mitglied des Europäischen Parlaments unterstützte Die Linke die pro-russische Darstellung auf jede erdenkliche Weise und organisierte Videokonferenzen mit pro-russischen Aktivist*innen, die auf die Krim und in die nicht anerkannten Republiken reisten. Die jüngeren Mitglieder der Partei Die Linke sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung (die Stiftung der Partei Die Linke) behaupten, dass diese Position nicht von allen Teilnehmenden geteilt wird, aber sie wird von den prominentesten Mitgliedern der Partei verbreitet.

Die pro-russische Position hat unter den Anarchist*innen keine Popularität erlangt. Unter den individuellen Äußerungen war die Position von Jeff Monson, einem Mixed-Martial-Arts-Kämpfer aus den USA, der Tätowierungen mit anarchistischen Symbolen hat, am sichtbarsten. Er bezeichnete sich früher als Anarchist, aber in Russland arbeitet er offen für die Regierungspartei Einiges Russland und ist Abgeordneter in der Duma.

Um das pro-russische ›linke‹ Lager zusammenzufassen, sehen wir die Arbeit der russischen Sonderdienste und die Folgen der ideologischen Unfähigkeit. Nach der Besetzung der Krim traten Mitarbeitende des russischen FSB an lokale Antifaschist*innen und Anarchist*innen heran und boten ihnen an, ihre Aktivitäten fortzusetzen, schlugen ihnen aber vor, sie sollten künftig die Idee, dass die Krim ein Teil Russlands sein sollte, in ihre Agitation einbeziehen. In der Ukraine gibt es kleine Informations- und Aktivistengruppen, die sich als antifaschistisch positionieren, dabei aber im Wesentlichen eine pro-russische Position vertreten; viele Menschen verdächtigen sie, für Russland zu arbeiten. Ihr Einfluss in der Ukraine ist minimal, aber ihre Mitglieder dienen russischen Propagandisten als ›Whistleblower‹.

Es gibt auch Angebote zur ›Zusammenarbeit‹ seitens der russischen Botschaft und pro-russischer Parlamentsabgeordneter wie Ilya Kiva. Sie versuchen, die negative Haltung gegenüber Nazis wie dem Asow-Bataillon auszunutzen und bieten an, Menschen zu bezahlen, damit sie ihre Haltung ändern. Bislang hat nur Rita Bondar offen zugegeben, auf diese Weise Geld erhalten zu haben. Früher schrieb sie für linke und anarchistische Medien, aber aus Geldnot schrieb sie unter einem Pseudonym für Medienplattformen, die mit dem russischen Propagandisten Dmitri Kiselev verbunden sind.

In Russland selbst sind wir Zeug*innen der Beseitigung der anarchistischen Bewegung und des Aufstiegs autoritärer Kommunist*innen, die Anarchist*innen aus der antifaschistischen Subkultur verdrängen. Einer der bezeichnendsten Momente der letzten Zeit ist die Organisation eines antifaschistischen Turniers im Jahr 2021 zum Gedenken an den ›sowjetischen Soldaten‹.

DROHT EIN AUSGEWACHSENER KRIEG MIT RUSSLAND? EIN ANARCHISTISCHER STANDPUNKT

Vor etwa zehn Jahren wäre die Vorstellung eines umfassenden Krieges in Europa noch verrückt gewesen, da die säkularen europäischen Staaten des 21. Jahrhunderts versuchen, ihren ›Humanismus‹ hochzuspielen und ihre Verbrechen zu verschleiern. Wenn sie sich an militärischen Operationen beteiligen, tun sie dies irgendwo weit weg von Europa. Aber was Russland betrifft, so haben wir die Besetzung der Krim und die anschließenden gefälschten Referenden, den Krieg im Donbas und den Flugzeugabsturz von MH17 miterlebt. Die Ukraine ist ständig mit Hackerangriffen und Bombendrohungen konfrontiert, nicht nur in staatlichen Gebäuden, sondern auch in Schulen und Kindergärten.

In Belarus erklärte sich Lukaschenko im Jahr 2020 mit einem Ergebnis von 80 % der Stimmen dreist zum Sieger der Wahlen. Der Aufstand in Belarus führte sogar zu einem Streik der belarussischen Propagandist*innen. Doch nach der Landung russischer FSB-Flugzeuge änderte sich die Lage dramatisch, und der belarussischen Regierung gelang es, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken.

Ein ähnliches Szenario spielte sich in Kasachstan ab, doch wurden dort die regulären Armeen Russlands, Belarus, Armeniens und Kirgisistans hinzugezogen, um dem Regime bei der Unterdrückung des Aufstands im Rahmen der CSTO-Kooperation (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) zu helfen.

Russische Spezialdienste lockten Geflüchtete aus Syrien nach Belarus, um einen Konflikt an der Grenze zur Europäischen Union heraufzubeschwören. Außerdem wurde eine Gruppe des russischen FSB enttarnt, die an politischen Morden mit chemischen Waffen – dem bereits bekannten ›Nowitschok‹ - beteiligt war. Neben den Skripals und Nawalny haben sie auch andere politische Persönlichkeiten in Russland getötet. Putins Regime antwortet auf alle Anschuldigungen mit den Worten: »Wir sind es nicht, ihr lügt alle.« In der Zwischenzeit hat Putin selbst vor einem halben Jahr einen Artikel geschrieben, in dem er behauptet, dass Russ*innen und Ukrainer*inn eine Nation sind und zusammen sein sollten. Wladislaw Surkow (ein politischer Stratege, der die russische Staatspolitik gestaltet und mit den Marionettenregierungen in der so genannten DNR und LNR in Verbindung steht) veröffentlichte einen Artikel, in dem er erklärte, dass »das Imperium expandieren muss, sonst wird es untergehen«. In Russland, Belarus und Kasachstan wurde die Protestbewegung in den letzten zwei Jahren brutal unterdrückt und unabhängige und oppositionelle Medien wurden zerstört. Wir empfehlen, hier mehr über die Aktivitäten Russlands zu lesen.

Alles in allem ist die Wahrscheinlichkeit eines ausgewachsenen Krieges hoch – und in diesem Jahr etwas höher als im letzten Jahr. Selbst die schärfsten Analyst*innen dürften kaum in der Lage sein, den genauen Zeitpunkt des Kriegsbeginns vorherzusagen. Vielleicht würde eine Revolution in Russland die Spannungen in der Region abbauen, aber wie wir oben geschrieben haben, wurde die Protestbewegung dort erstickt.

Die Anarchist*innen in der Ukraine, in Belarus und in Russland unterstützen meist direkt oder implizit die ukrainische Unabhängigkeit. Der Grund dafür ist, dass die Ukraine trotz aller nationalen Hysterie, Korruption und einer großen Zahl von Nazis im Vergleich zu Russland und den von ihm kontrollierten Ländern wie eine Insel der Freiheit wirkt. In diesem Land gibt es einige Besonderheiten, die im postsowjetischen Raum einzigartig sind, wie die Absetzbarkeit des Präsidenten, ein Parlament, das mehr als nur nominelle Befugnisse hat, und das Recht, sich friedlich zu versammeln; in einigen Fällen, wenn man die zusätzliche Aufmerksamkeit der Gesellschaft in Betracht zieht, funktionieren die Gerichte manchmal sogar gemäß ihrem erklärten Protokoll. Zu sagen, dass dies besser ist als die Situation in Russland, ist nichts Neues. Wie Bakunin schrieb: »Wir sind fest davon überzeugt, dass die unvollkommenste Republik tausendmal besser ist als die aufgeklärteste Monarchie.«

Es gibt viele Probleme in der Ukraine, aber diese Probleme lassen sich eher ohne die Einmischung Russlands lösen.

Lohnt es sich, im Falle einer Invasion gegen die russischen Truppen zu kämpfen? Wir glauben, dass die Antwort ja lautet. Zu den Optionen, die ukrainische Anarchist*innen derzeit in Erwägung ziehen, gehören der Beitritt zu den ukrainischen Streitkräften, die Beteiligung an der Territorialverteidigung, die Parteinahme und der Freiwilligendienst.

Die Ukraine steht jetzt an der Spitze des Kampfes gegen den russischen Imperialismus. Russland hat langfristige Pläne, die Demokratie in Europa zu zerstören. Wir wissen, dass dieser Gefahr in Europa bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Aber wenn man die Äußerungen hochrangiger Politiker*innen, rechtsextremer Organisationen und autoritärer Kommunist*innen verfolgt, wird man mit der Zeit feststellen, dass es in Europa bereits ein großes Spionagenetz gibt. So erhalten beispielsweise einige Spitzenbeamte nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt eine Stelle in einer russischen Ölgesellschaft.

Wir halten die Slogans »Sag Nein zum Krieg« oder »Der Krieg der Reiche« für unwirksam und populistisch. Die anarchistische Bewegung hat keinen Einfluss auf den Prozess, daher ändern solche Aussagen überhaupt nichts. Unsere Position basiert auf der Tatsache, dass wir nicht weglaufen wollen, dass wir keine Geiseln sein wollen und dass wir nicht kampflos getötet werden wollen. Ihr könnt euch Afghanistan ansehen und verstehen, was »Nein zum Krieg« bedeutet: Wenn die Taliban vorrücken, fliehen die Menschen in Massen, sterben im Chaos auf den Flughäfen, und die, die zurückbleiben, werden gesäubert. Dies beschreibt, was auf der Krim geschieht, und ihr könnt euch vorstellen, was nach dem Einmarsch Russlands in anderen Regionen der Ukraine geschehen wird.

Was die Haltung zur NATO betrifft, so sind die Autor*innen dieses Textes in zwei Standpunkte gespalten. Einige von uns haben eine positive Einstellung zu dieser Situation. Es ist offensichtlich, dass die Ukraine Russland nicht allein entgegentreten kann. Selbst wenn man die große Freiwilligenbewegung berücksichtigt, werden moderne Technologien und Waffen benötigt. Abgesehen von der NATO hat die Ukraine keine anderen Verbündeten, die ihr dabei helfen könnten.

Hier können wir uns an die Geschichte des syrischen Kurdistans erinnern. Die Einheimischen wurden gezwungen, mit der NATO gegen ISIS zu kooperieren – die einzige Alternative war zu fliehen oder getötet zu werden. Wir wissen sehr wohl, dass die Unterstützung durch die NATO sehr schnell verschwinden kann, wenn der Westen neue Interessen entwickelt oder es schafft, einige Kompromisse mit Putin auszuhandeln. Selbst jetzt ist die Selbstverwaltung gezwungen, mit dem Assad-Regime zusammenzuarbeiten, weil sie weiß, dass sie keine Alternative hat.

Eine mögliche russische Invasion zwingt die ukrainische Bevölkerung, sich Verbündete im Kampf gegen Moskau zu suchen. Nicht in den sozialen Medien, sondern in der realen Welt. Die Anarchist*innen verfügen weder in der Ukraine noch anderswo über ausreichende Ressourcen, um wirksam auf die Invasion des Putin-Regimes zu reagieren. Deshalb muss man darüber nachdenken, Unterstützung von der NATO anzunehmen.

Der andere Standpunkt, den auch weitere in dieser Schreibgruppe vertreten, ist, dass sowohl die NATO als auch die EU durch die Stärkung ihres Einflusses in der Ukraine das derzeitige System des “wilden Kapitalismus” in dem Land zementieren und das Potenzial für eine soziale Revolution noch weniger realisierbar machen werden. Im System des globalen Kapitalismus, dessen Flaggschiff die USA als Anführerin der NATO ist, wird der Ukraine der Platz eines bescheidenen Grenzlandes zugewiesen: ein Lieferant von billigen Arbeitskräften und Ressourcen. Daher ist es für die ukrainische Gesellschaft wichtig, die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von allen Imperialisten zu erkennen. Im Zusammenhang mit der Verteidigungsfähigkeit des Landes sollte der Schwerpunkt nicht auf der Bedeutung der NATO-Technologie und der Unterstützung für die reguläre Armee liegen, sondern auf dem Potenzial der Gesellschaft für einen basisdemokratischen Guerilla-Widerstand.

Wir betrachten diesen Krieg in erster Linie als Krieg gegen Putin und die von ihm kontrollierten Regime. Neben der banalen Motivation, nicht unter einer Diktatur zu leben, sehen wir das Potenzial der ukrainischen Gesellschaft, die zu den aktivsten, unabhängigsten und rebellischsten in der Region gehört. Die lange Geschichte des Widerstands des Volkes in den letzten dreißig Jahren ist ein solider Beweis dafür. Das gibt uns Hoffnung, dass die Konzepte der direkten Demokratie hier auf fruchtbaren Boden fallen.

DIE AKTUELLE SITUATION DER ANARCHIST*INNEN IN DER UKRAINE UND NEUE HERAUSFORDERUNGEN

Die Außenseiterposition während des Maidan und des Krieges hatte eine demoralisierende Wirkung auf die Bewegung. Die Öffentlichkeitsarbeit wurde erschwert, da die russische Propaganda das Wort ›Antifaschismus‹ monopolisierte. Aufgrund der Präsenz der Symbole der UdSSR unter den pro-russischen Aktivist*innen war die Einstellung gegenüber dem Wort ›KommunismusX äußerst negativ, so dass selbst die Kombination ›Anarchakommunismus‹ negativ wahrgenommen wurde. Die Erklärungen gegen die pro-ukrainische Ultra-Rechte warfen in den Augen der einfachen Leute einen Schatten des Zweifels auf die Anarchist*innen. Es gab eine unausgesprochene Vereinbarung, dass die Ultrarechten Anarchist*innen und Antifaschist*innen nicht angreifen würden, wenn sie ihre Symbole nicht bei Kundgebungen und Ähnlichem zeigten. Die Rechten hatten eine Menge Waffen in der Hand. Diese Situation schuf ein Gefühl der Frustration; die Polizei funktionierte nicht gut, so dass jemand leicht getötet werden konnte, ohne dass dies Konsequenzen hatte. So wurde zum Beispiel 2015 der pro-russische Aktivist Oles Buzina getötet.

All dies ermutigte die Anarchist*innen, die Angelegenheit ernster anzugehen.

Ab 2016 begann sich ein radikaler Untergrund zu entwickeln; Nachrichten über radikale Aktionen begannen zu erscheinen. Es erschienen radikale anarchistische Ressourcen, die erklärten, wie man Waffen kauft und wie man Verstecke anlegt, im Gegensatz zu den alten, die nur auf Molotow-Cocktails beschränkt waren.

Im anarchistischen Milieu ist es akzeptabel geworden, legale Waffen zu besitzen. Videos von anarchistischen Ausbildungslagern, in denen Schusswaffen benutzt wurden, tauchten auf. Ein Echo dieser Veränderungen erreichte Russland und Belarus. In Russland löste der FSB ein Netzwerk anarchistischer Gruppen auf, die über legale Waffen verfügten und Airsoft praktizierten. Die Verhafteten wurden mit elektrischem Strom gefoltert, um sie zu einem Geständnis des Terrorismus zu zwingen, und zu Haftstrafen zwischen 6 und 18 Jahren verurteilt. In Belarus wurde während der Proteste 2020 eine rebellische Gruppe von Anarchist*innen unter dem Namen “Schwarze Flagge” festgenommen, als sie versuchte, die belarussische-ukrainische Grenze zu überqueren. Sie hatten eine Schusswaffe und eine Granate bei sich; nach Aussage von Igor Olinevich hatte er die Waffe in Kiew gekauft.

Der veraltete Ansatz der wirtschaftlichen Agenda der Anarchist*innen hat sich ebenfalls geändert: Während früher die Mehrheit in schlecht bezahlten Jobs arbeitete, die »näher an den Unterdrückten« waren, versuchen jetzt viele, einen gut bezahlten Job zu finden, meist im IT-Sektor.

Antifaschistische Gruppen auf der Straße haben ihre Aktivitäten wieder aufgenommen und nehmen an Vergeltungsaktionen im Falle von Nazi-Angriffen teil. Unter anderem veranstalteten sie das Turnier ›No Surrender‹ unter Antifa-Kämpfenden und veröffentlichten einen Dokumentarfilm mit dem Titel ›Hoods‹, der von der Entstehung der Kiewer Antifa-Gruppe erzählt.

Der Antifaschismus in der Ukraine ist eine wichtige Front, denn neben einer großen Zahl einheimischer ultrarechter Aktivist*innen sind viele berüchtigte Nazis aus Russland, Europa und sogar aus den USA (Robert Rando) hierher gezogen. Anarchist*innen haben die Aktivitäten der extremen Rechten untersucht.

Es gibt verschiedene Arten von Aktivistengruppen (klassische Anarchist*innen, Queer-Anarchist*innen, Anarcha-Feminist*innen, Food Not Bombs, Öko-Initiativen usw.) sowie kleine Informationsplattformen. Kürzlich ist im Telegram-Kanal @uantifa eine politisch aufgeladene antifaschistische Ressource erschienen, die ihre Veröffentlichungen auf Englisch dupliziert.

Heute glätten sich die Spannungen zwischen den Gruppen allmählich, da es in letzter Zeit viele gemeinsame Aktionen und eine gemeinsame Beteiligung an sozialen Konflikten gegeben hat. Zu den größten gehören die Kampagne gegen die Abschiebung des belarussischen Anarchisten Aleksey Bolenkov (der einen Prozess gegen die ukrainischen Sonderdienste gewann und in der Ukraine bleiben konnte) und die Verteidigung eines Kiewer Stadtteils (Podil) gegen Polizeirazzien und Angriffe der Ultrarechten.

Wir haben immer noch sehr wenig Einfluss auf die Gesellschaft im Allgemeinen. Das liegt vor allem daran, dass der Gedanke, dass eine Organisation und anarchistische Strukturen notwendig sind, lange Zeit ignoriert oder geleugnet wurde. (Auch Nestor Makhno beklagte in seinen Memoiren dieses Manko nach der Niederlage der Anarchist*innen). Anarchistische Gruppen wurden sehr schnell durch den SBU [Sicherheitsdienst der Ukraine] oder die extreme Rechte zerschlagen.

Jetzt sind wir aus der Stagnation herausgekommen und entwickeln uns weiter, und deshalb rechnen wir mit neuen Repressionen und neuen Versuchen des SBU, die Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen.

In diesem Stadium kann man unsere Rolle als die radikalsten Ansätze und Ansichten im demokratischen Lager bezeichnen. Während Liberale es vorziehen, sich im Falle eines Angriffs durch die Polizei oder die extreme Rechte bei der Polizei zu beschweren, bieten Anarchist*innen an, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, die unter einem ähnlichen Problem leiden, und Institutionen oder Veranstaltungen zu verteidigen, wenn die Möglichkeit eines Angriffs besteht.

Anarchist*innen versuchen nun, horizontale Basisverbindungen in der Gesellschaft zu schaffen, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, so dass Gemeinschaften ihre eigenen Bedürfnisse, einschließlich der Selbstverteidigung, erfüllen können. Dies unterscheidet sich erheblich von der üblichen politischen Praxis in der Ukraine, in der oft vorgeschlagen wird, sich um Organisationen, Vertreter*innen oder die Polizei zu scharen. Organisationen und Vertreter*innen werden oft bestochen und die Menschen, die sich um sie versammelt haben, werden getäuscht. Die Polizei kann zum Beispiel LGBT-Veranstaltungen verteidigen, wird aber wütend, wenn diese Aktivist*innen sich einem Aufstand gegen Polizeibrutalität anschließen. Das ist der Grund, warum wir in unseren Ideen Potenzial sehen – aber wenn ein Krieg ausbricht, wird die Hauptsache wieder die Fähigkeit sein, sich an bewaffneten Konflikten zu beteiligen.

GEGEN ANNEXION UND IMPERIALE AGGRESSION: EINE ERKLÄRUNG RUSSISCHER ANARCHIST*INNEN

Wir schließen diese Folge mit einer kurzen Erklärung russischer Anarchist*innen, die kurz vor dem Beginn der Invasion veröffentlicht wurde. Sie erschien auf Russisch auf avtonom.org, einem Medienprojekt, das aus dem libertären kommunistischen Netzwerk Autonomous Action hervorgegangen ist, und wurde am 22. Februar in englischer Übersetzung von CrimethInc. veröffentlicht.

Gestern, am 21. Februar, fand eine außerordentliche Sitzung des russischen Sicherheitsrates statt. Im Rahmen dieses theatralischen Aktes zwang Putin seine engsten Diener, ihn öffentlich zu ›bitten‹, die Unabhängigkeit der so genannten ›Volksrepubliken‹ der Luhansker Volksrepublik [LPR] und der Donezker Volksrepublik [DPR] in der Ostukraine anzuerkennen.

Es ist ganz offensichtlich, dass dies ein Schritt in Richtung einer weiteren Annexion dieser Gebiete durch Russland ist – unabhängig davon, wie dies rechtlich formalisiert (oder nicht formalisiert) wird. Tatsächlich betrachtet der Kreml die LPR und die DVR nicht mehr als Teil der Ukraine, sondern macht sie endgültig zu seinem Protektorat. »Erst die Anerkennung der Unabhängigkeit, dann die Annexion«: Diese Reihenfolge wurde bereits 2014 auf der Krim ausgearbeitet. Dies geht auch aus den dummen Vorbehalten hervor, die der Direktor des russischen Auslandsgeheimdienstes, Naryschkin, auf der Sitzung des Sicherheitsrates äußerte (»Ja, ich unterstütze den Beitritt dieser Gebiete zur Russischen Föderation«). Da die Sitzung, wie sich herausstellte, auf Band [und nicht live] übertragen wurde und diese ›Vorbehalte‹ nicht herausgeschnitten, sondern drin gelassen wurden, ist der Hinweis klar.

In einem ›Appell an das Volk‹ am selben Abend schien Putin mit diesen Forderungen ›einverstanden‹ zu sein und kündigte die Anerkennung der LPR und der DPR als unabhängige Staaten an. In der Tat sagte er Folgendes: »Wir nehmen uns ein Stück des Donbas, und wenn die Ukraine das Boot wackeln lässt, dann soll sie sich selbst die Schuld geben, wir betrachten sie überhaupt nicht als Staat, also werden wir uns noch mehr nehmen.« Laut Putins Dekret sind russische Truppen bereits in das Gebiet der LPR und DPR eingedrungen. Dies ist eine klare Drohgebärde gegenüber dem Rest der Ukraine und insbesondere gegenüber den Teilen der Regionen Luhansk und Donezk, die noch von der Ukraine kontrolliert werden. Dies ist die eigentliche Besetzung [in dem Sinne, dass Luhansk und Donezk bisher nur stellvertretend besetzt waren].

Wir wollen uns nicht für irgendwelche Staaten einsetzen. Wir sind Anarchist*innen und wir sind gegen jegliche Grenzen zwischen Nationen. Aber wir sind gegen diese Annexion, weil damit nur neue Grenzen gezogen werden, und die Entscheidung darüber trifft allein der autoritäre Führer – Wladimir Putin. Dies ist ein Akt der imperialistischen Aggression durch Russland. Wir machen uns keine Illusionen über den ukrainischen Staat, aber es ist uns klar, dass er nicht der Hauptaggressor in dieser Geschichte ist – es handelt sich nicht um eine Konfrontation zwischen zwei gleichwertigen Übeln. Zunächst einmal handelt es sich um einen Versuch der autoritären russischen Regierung, ihre internen Probleme durch einen »kleinen siegreichen Krieg und die Anhäufung von Ländereien« (eine Anspielung auf Zar Iwan III.) zu lösen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Kreml-Regime eine Art Spektakel eines ›Referendums‹ über die annektierten Gebiete inszenieren wird. Solche Veranstaltungen fanden bereits 2014 in der DVR und der LPR statt, aber nicht einmal Moskau erkannte ihre Ergebnisse an. Jetzt hat Putin offenbar beschlossen, das zu ändern. Von einer ›freien und geheimen Abstimmung‹ kann in diesen Gebieten natürlich keine Rede sein – sie werden von militarisierten Banden kontrolliert, die völlig von Moskau abhängig sind. Diejenigen, die sich diesen Banden widersetzten und gegen die Integration mit Russland waren, wurden entweder getötet oder zur Auswanderung gezwungen. Daher wird jedes “Referendum über die Rückkehr des Donbas wie ein verlorenes Schiff in seinen Heimathafen” eine Propagandalüge sein. Die Bewohner*innen des Donbas werden ihre Entscheidung erst dann treffen können, wenn die Truppen aller Staaten – allen voran der Russischen Föderation – diese Gebiete verlassen haben.

Die Anerkennung und Annexion der DVR und der LPR wird den Bewohnern Russlands selbst nichts Gutes bringen.

Erstens wird dies in jedem Fall zu einer Militarisierung aller Lebensbereiche, zu einer noch stärkeren internationalen Isolierung Russlands, zu Sanktionen und zu einem Rückgang des allgemeinen Wohlstands führen. Auch die Wiederherstellung der zerstörten Infrastruktur und die Aufnahme der ›Volksrepubliken‹ in den Staatshaushalt werden nicht zum Nulltarif zu haben sein – beides wird Milliarden von Rubel kosten, die sonst für Bildung und Medizin ausgegeben werden könnten. Keine Frage: Die Yachten der russischen Oligarchen werden nicht kleiner werden, aber das Leben aller anderen wird sich verschlechtern.

Zweitens wird die wahrscheinliche Verschärfung der bewaffneten Konfrontation mit der Ukraine mehr tote und verwundete Soldat*innen und Zivilist*innen, mehr zerstörte Städte und Dörfer, mehr Blut bedeuten. Selbst wenn dieser Konflikt nicht zu einem Weltkrieg eskaliert, sind Putins imperiale Fantasien kein einziges Leben wert.

Drittens bedeutet dies die weitere Ausbreitung der so genannten ›russischen Welt‹: eine verrückte Kombination aus neoliberaler Oligarchie, starrer zentralisierter Macht und patriarchalischer imperialer Propaganda. Diese Konsequenz ist nicht so offensichtlich wie die Verteuerung von Würstchen und die Sanktionen gegen Smartphones – aber auf lange Sicht ist sie noch gefährlicher.

Wir fordern euch auf, der Aggression des Kremls mit allen Mitteln entgegenzutreten, die ihr für richtig haltent. Gegen die Beschlagnahmung von Territorien unter jedem Vorwand, gegen die Entsendung der russischen Armee in den Donbas, gegen die Militarisierung. Und schließlich gegen den Krieg. Geht auf die Straße, verbreitet die Botschaft, sprecht mit den Menschen in eurer Umgebung – ihr wisst, was zu tun ist. Seid nicht still. Werdet aktiv. Selbst eine kleine Schraube kann das Getriebe einer Todesmaschine zum Stillstand bringen.

Gegen alle Grenzen, gegen alle Reiche, gegen alle Kriege!

-Autonome Aktion

SCHLUSSFOLGERUNG

Das war’s für diese Folge des Ex-Workers. Wir hoffen, dass wir euch damit einen soliden Hintergrund über die Umstände, die zu diesem Krieg zwischen Russland und der Ukraine geführt haben, und die Perspektiven von Anarchist*innen auf beiden Seiten der Grenze vermitteln konnten. Vergesst nicht, auf unserer Website crimethinc.com/podcasts nach Links zu suchen, um mehr über all die Dinge zu erfahren, die wir besprochen haben.

Wir werden in ein paar Tagen mit einer weiteren Folge zurückkehren, in der wir uns mit den Ereignissen seit Beginn der Invasion und der aktuellen Lage befassen, einschließlich Live-Interviews, Berichten von der Front und aktuellen Informationen über Antikriegsaktivitäten in der Region. Bleibt dran! Bis dahin senden wir unsere Liebe und Solidarität an unsere Gefährt*innen, Imperium bekämpfen. Bleibt stark, liebt und kämpft weiter.